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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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mehrere Monate tot gelegen hat, habe ich das Tagebuch ihres Sohnes gefunden. Dieser Sohn ist vor sieben Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen, kurz bevor er einen Polizeibeamten aufsuchen konnte.« Er berichtete, was er bisher unternommen hatte, und reichte Englin schließlich das Tagebuch über den Tisch. Der schüttelte nur den Kopf.
    »Das muss ich nicht nachlesen«, sagte er. »Sie haben das ja präzise dargelegt, und ich denke... ach, das interessiert eigentlich nicht. Ärgerlich ist nur, dass dieser Dannecker nun bereits vorgewarnt ist, oder was denken Sie?« Das galt Tamar.
    »Immerhin ist es aufschlussreich«, antwortete Tamar, »dass dieser Heimleiter sich sofort an Dannecker gewandt hat. Es kommt mir so vor, als seien die Herrschaften ein wenig nervös. Sicherlich ist Dannecker jetzt vorgewarnt. Aber auf der anderen Seite wird er seine Buchführung sowieso längst frisiert haben.«
    »Da haben Sie Recht«, sagte Englin, »das können unsere Kunden. Die Fassade herausputzen. Die Konten frisieren. So tun, als ob alles mit rechten Dingen zugeht. Sonntagsreden über den Rechtsstaat halten und darüber, dass Leistung sich wieder lohnen muss.«
    Kuttler hätte gerne einen Blick zu Tamar geworfen, aber er wagte es nicht.
    »Der Beamte, den dieser junge Mann sprechen wollte, war Berndorf?«
    »Ja«, antwortete Kuttler kleinlaut.
    »Ich dachte es mir«, sagte Englin. »Und – wollen Sie jetzt Berndorf zuziehen?«
    Sein Blick ging von Kuttler zu Tamar.
    »Durchaus nicht«, sagte sie. »Ich denke, wir sollten diese Solveig finden. Von ihr kommt schließlich die Information, dass etwas mit Danneckers Mandantengeldern nicht stimmt.«
    »Richtig«, sagte Englin. »Aber ich möchte auch, dass Sie sich näher ansehen, wie dieser Rollstuhlfahrer zu Tode gekommen ist. Reden Sie mit dem Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat. Und lassen Sie sich das Testament zeigen und die Abrechnungen Danneckers.« Er legte die Hände auf den Schreibtisch und blickte auf seinen Schreibblock. »Dannecker hat mir gedroht, er wolle sich notfalls bei höherer Stelle beschweren. Ich habe ihn reden lassen, und er darf sich auch gerne beschweren.« Plötzlich schaute er auf, von Tamar zu Kuttler und wieder zurück. »Aber dann soll er auch wenigstens einen verdammten Grund dafür haben.«

Doch antwortest du nicht
    D er Tag würde schön werden, hatte der Wetterbericht im Radio versprochen, und jetzt, kurz nach zehn Uhr, begann sich der Hochnebel aufzulösen, die Sonne kam durch, und das Glasfenster mit der Darstellung eines segnenden Christus begann aufzuleuchten.
    Das hätten sie sich sparen können, dachte Luzie, aufrecht auf dem kleinen Stuhl mit dem Korbgeflecht sitzend, sehr aufrecht sogar, nicht nur, weil es sich in einer Aussegnungshalle so gehörte, sondern weil das schwarze Direktions-Assistentinnen-Kostüm in den Hüften ein wenig eng geworden war. Außerdem schmerzte die Stelle, wo sie an der Tischkante aufgelegen hatte.
    Wer waren diese »sie«, die sich die Mühe mit der Herbstsonne nicht hätten zu machen brauchen? Luzie dachte nicht weiter darüber nach. Jedenfalls war ihr klar, dass sie an Stelle der unglücklichen Charlotte Gossler die Beleuchtung nur als Hohn empfunden hätte. Aber Charlotte Gossler empfand nichts mehr, und das war noch das Beste, was ihr an diesem Morgen passieren konnte.
    Die Blumen rund um den Sarg – Mooreiche dunkel, also gehobene Qualität, die Gemeinnützigen Heimstätten hatten noch einiges dazugelegt – waren angemessen, nicht zu üppig. Auf einen Kranz hatte Luzie verzichtet. Soweit schien alles in Ordnung. Vorsichtig sah sie sich um. Der graubärtige Mann in dem altmodischen dunklen Anzug, von einem jungen Mädchen mit Kopftuch begleitet, musste wohl der türkische Schneider ausdem Erdgeschoss sein. Würde sie es über sich bringen, überlegte Luzie, zu einer muslimischen Trauerfeier zu gehen?
    Auf dem Stuhl neben ihr saß Juffy, er hatte heute Morgen auf Radlerhosen verzichtet und war in einem Anzug gekommen, in dem er merkwürdig verkleidet aussah. Isolde hatte ausrichten lassen, wegen der Trauerfeier könne kein Unterricht ausfallen. Eine Ausrede, dachte Luzie. Juffy hatte dafür Puck abgeholt, die jetzt zwei Reihen hinter ihr saß, in Jeans und einem schwarzen Rollkragenpullover, etwas figurbetont, nun ja.
    Mit großem Vergnügen hätte Luzie heute Morgen die Sachbearbeiterin Fudel per Dienstanweisung gezwungen, sie zu der Trauerfeier zu begleiten, und lustvoll malte sie sich den

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