Uferwald
unsichtbar ausgefahrenen Krallen gewesen, die sie schon immer abgeschreckt hatten. Wäre es nur um Til gegangen, so wäre manches so undenkbar nicht gewesen, nicht undenkbarer als mit dem oder jenem anderen, wenn es auch ganz sicher kein Vergleich gewesen wäre zu dem, was gestern Abend passiert war, weiß Gott nicht: Aber nicht in dieser Wohnung, nicht mit der Frau Gossler im Zimmer nebenan, die so leise war, so unhörbar, dass jeder wusste, keinesfalls würde sie den Besuch stören wollen, und gerade darum war sie jeden Augenblick so gegenwärtig, als blickte sie durch einen verborgen angebrachten Spion.
»Charlotte Gossler ist einsam gestorben, ohne Trost«, predigte der Pfarrer, das heißt, er predigte es nicht, er sagte es einfach, »und so gibt es auch nichts, was uns Trost sein könnte oder das Gefühl geben dürfte, es sei getan worden, was zu tun war...«
Pfarrerchen, erzähl jetzt bitte nichts von der sozialen Kälte und der Vereinzelung des Menschen, ging es Luzie durch den Kopf, wir haben einen guten Tausender draufgelegt, dass die alte Frau einen ordentlichen Sarg bekommt, der dann doch bloß gleich verbrannt wird, und dass die Fudel ihre Arbeit nicht gemacht hat, das hat nichts mit der sozialen Kälte zu tun, sondern mit der Fudel, und hätte sie ihre Arbeit getan, dann wäre die Frau Gossler auch tot und längst verbrannt, und ich müsste nicht hier sitzen in diesem verdammten Kostüm und auf diesem unbequemen Stuhl und überhaupt! Hätte Tilmans Mutter nicht so geklammert, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen...
I ch verstehe das alles nicht«, sagte der Heimleiter Brauchle und wies, mehr widerwillig als einladend, auf den hölzernen Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch, »wirklich, ich habe gestern Ihrem Kollegen Auskunft gegeben, und wenn es noch eine Frage gibt, warum hat er sie dann nicht gleich gestellt, wir haben doch unsere Zeit nicht gestohlen!«
»Ich auch nicht«, antwortete Tamar sanft, packte den Besucherstuhl an der Lehne und stellte ihn an den kleinen Besprechungstisch, der etwas abseits im Zimmer stand. Sie setzte sich, holte ein Notizbuch aus ihrem Jackett und wies auf den Platz ihr gegenüber. »Bitte!«
Brauchle, der sich schon wieder in seinen Sessel hatte fallen lassen, starrte zornig über den Schreibtisch. »Bitte«, wiederholte Tamar. »Und bringen Sie die Unterlagen über Kaminski gleich mit.«
Langsam, als könne er seinen Unwillen nur mühsam beherrschen, stand Brauchle auf, suchte den Ordner, den er schon gestern für Kuttler herausgeholt hatte, und kam damit an den Besprechungstisch.
»Alles, was da drin steht, habe ich gestern dem Herrn Dingsbums gesagt.«
»Sie werden es mir noch einmal sagen«, antwortete Tamar mit unveränderter Freundlichkeit. »Aber setzen Sie sich doch.«
Brauchle rührte sich nicht und starrte durch seine Brille auf Tamar herab. Schließlich schien er sich zu besinnen und ließ sich auf den zweiten Stuhl am Besuchertisch nieder, den Ordner noch in beiden Händen haltend.
»Ich habe das heute Morgen als erstes nachgeprüft«, sagte Tamar und blickte auf ihren Notizblock, »Rolf Kaminski wurde am 14. November 1999 in das Universitätsklinikum gebracht. Sein Zustand war lebensbedrohlich, er kam sofort auf die Intensivstation, starb dort aber am 17. November.« Sie sah von ihrem Notizblock hoch. »Wann haben Sie den Hausarzt verständigt, und wann ist was von diesem veranlasst worden?«
Brauchles Gesicht war blass, aber auf den Wangenknochen zeichneten sich zwei kreisrunde rote Flecken ab. »Was fragen Sie mich das! Das ist über sechs Jahre her!«
»Sie haben Ihre Unterlagen«, erinnerte ihn Tamar.
Erst jetzt schlug Brauchle den Ordner auf, aber seine Finger schienen zu zittern, vor Zorn oder Empörung, und er blätterte wie ziellos durch die Seiten.
»Geben Sie es mir«, sagte Tamar, griff über den Tisch und zog den Ordner zu sich heran.
»Das können Sie nicht tun«, protestierte Brauchle, »das sind vertrauliche Unterlagen.«
Tamar lächelte kurz und schlug die Seiten unter »K« auf. »Wahrscheinlich werde ich diesen Ordner sowieso mitnehmen. Sie bekommen dann eine Quittung. Einstweilen könnten Sie heraussuchen, wer von Ihren Leuten damals schon im Haus gewohnt hat, und ebenso brauche ich die Liste aller Mitarbeiter, die damals hier beschäftigt waren... Hier haben wir es ja.« Sie begann zu lesen und sich Notizen zu machen. »Hausarzt war ein Dr. Handloser... gibt es den noch?«
»Hören Sie«, sagte Brauchle, »dies
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