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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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spielenden Kindes, es trug ein rosafarbenes Kleid und hatte eine Schleife im Haar und war nicht Rebecca und auch sonst kein Kind, das er kannte.
    »Ich hab ein Foto aus dem Internet genommen«, erklärte Marion, »irgendwie kann ich da kein Bild von unseren Kindern brauchen.«
    Treutlein verstand. In den Hintergrund des Bildes war eine schwarze Gestalt montiert, ein Mann mit Hut, nur in den Umrissen erkennbar, eine krallenartige Hand ausgestreckt. Daneben die Schlagzeile: » Rettet unser friedliches Eschental! «
    »Irgendwie muss ich das noch anders machen«, meinte Marion. »Dass die Hand wirklich aus dem Hintergrund kommt und nach dem Kind greift.«
    Wieder fuhr sich Treutlein über die Stirn. Diese schwarze Gestalt im Hintergrund hatte er schon einmal gesehen. Auf einem Plakat? Nein, in irgendeinem Bildband über die frühe Bundesrepublik, vermutlich war es ein Wahlplakat der Staatspartei gewesen, mit dem für den Schutz der Familie vor den Sowjets und anderen Vergewaltigern geworben werden sollte. Das geht so nicht, dachte er. Wenn wir die Leute vom Heim Zuflucht so darstellen, bekommen wir die Überkorrekten an den Hals, und dieZeitungen zetern womöglich von Volksverhetzung, er sah schon die Schlagzeile vor sich:
    Bürgerinitiative verunglimpft Sozialhilfeempfänger als Untermenschen.
    »Du«, sagte er, »das ist ein sehr wirkungsvoller Entwurf, gar kein Zweifel, nur könnten wir ein Problem damit bekommen.« Und er begann, ihr dieses Problem zu erklären. Marion wandte sich ihm zu, und da er neben ihr saß und der Hocker etwas niedriger war als Marions Schreibtischstuhl und er ihr nicht ständig in den Ausschnitt starren konnte, musste er ihr ins Gesicht sehen, und das war sehr nah dem seinen. Soweit er sich später erinnern konnte, sagte er oder versuchte er zu sagen, dass die Bürgerinitiative ja keine Feindschaft gegen die Bewohner des Heimes Zuflucht säen wolle, sondern ganz im Gegenteil mitarbeite, eine angemessene Unterkunft für sie zu finden, eine angemessene und geeignete, und das Eschental sei der vorhersehbaren Konflikte wegen eben nicht geeignet.
    Eine Kinderstimme, die ein wenig quengelnd und ein wenig neugierig und irgendwie seltsam klang, kam von der Tür her:
    »Mami, der Film is aus«, sagte Rebecca und wiegte sich am Türpfosten, »oder soll ich dich jetzt nicht stören?«
    Eine Viertelstunde später rief Treutlein zu Hause an.
    »Ja, Isolde«, sagte er, »ich bin noch bei Thomas und Marion, wir arbeiten noch an dem Flugblatt, bringst du die Kinder zu Bett? Es kann später werden.«
     
    D er Regen schlug gegen das Fenster an der Südwand des Neuen Baus. Tamar hatte die Schreibtischlampe eingeschaltet, sonst war es dunkel. Kuttler, zurückgelehnt in seinem Drehstuhl, sah ihr beim Lesen zu. Er dachte: nichts.
    Zeit verging. Kuttler hörte den Regen und das leise Rascheln, wenn Tamar eine Seite umblätterte.
    Schließlich klappte Tamar das Buch vorsichtig zusammen und legte es vor sich auf den Schreibtisch. Sie schaute zu Kuttlerin das Dunkel hinüber, aber ihrem Gesicht war nichts anzumerken.
    »Du hast einen Fehler gemacht, Kuttler.«
    »Sag ihn mir.«
    »Du bist zu früh zu diesem Brauchle.«
    »Ich wollte zu Kaminski. Hätte ich gewusst, dass der tot ist...« »Dafür gibt es das Melderegister, dass man das weiß.« Kuttler sagte nichts, und eine Weile hörte man wieder nur
    den Regen.
    »Und was jetzt?«, fragte Tamar.
    »Weiß ich selbst nicht«, antwortete Kuttler.
    »Es gibt immer zwei Möglichkeiten«, sagte Tamar. »Du legst dieses Tagebuch zu dem Nachlass der Frau Gossler, und wir vergessen das Ganze, und alles ist gut. Oder wir vergessen es nicht, dann haben wir wieder zwei Möglichkeiten. Die eine ist – wir schicken das Tagebuch nach Berlin, weil Tilman doch Berndorf sprechen wollte, dann ist auch alles gut, weil Berndorf aufkreuzt und seinen Hund mitbringt und Englin im Viereck springt und alles ein Durcheinander wird, wie es schon immer war und niemals aufhört...«
    »Und wenn wir das Buch nicht vergessen und nicht nach Berlin schicken?«
    »Dann können wir eigentlich nur eines tun«, antwortete Tamar. »Wir müssen diese Solveig finden.«
    Das Telefon klingelte. Tamar meldete sich und kniff gleich darauf ein Auge zusammen. »Ja«, sagte sie dann, »wir kommen.«
    Kuttler hatte begriffen und stand auf. »Nehmen wir das mit?«, fragte er und deutete auf das Tagebuch.
    »Ja.«
     
    D ie Straße war eng und gewunden und führte durch einen Wald, über Kuppen und dann wieder

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