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Uferwald

Titel: Uferwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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nie einen gekannt, und getan habe er ihm auch nichts! Alle anderen Bewohner, die sie gefragt hatte, waren später gekommen, offenbar blieb man nicht lange im Heim Zuflucht oder hatte nicht mehr allzu viele Jahre vor sich, wenn man hierher kam. Ebenso wechselten die Mitarbeiter häufig, außer Brauchle war nur der kroatische Koch schon 1999 im Heim beschäftigt gewesen, er war schwerhörig, und Deutsch verstand er vorsichtshalber gleich gar nicht. Wie sollten so die Umstände, unter denen Kaminski sich seine Lungenentzündung geholt hatte, noch aufzuklären sein?
    Sie fuhr die kleine gewundene Straße hinab, die trügerisch von Bäumen bestanden war, als verlasse sie jetzt ein verträumtes Idyll. Nach einer Kurve trat unter einem der Bäume ein in einen Mantel gehülltes Männchen mit einer Sportmütze an den Wegrand und hielt den Daumen hoch, Richtung Stadt.
    Tamar hielt und öffnete die Beifahrertür. Das Männchen nahm höflich die Mütze ab und stieg ein, unter der Mütze war es kahlköpfig, und Tamar erkannte den alten Jakubeit.
    »Ich hoffe, Sie haben auch wirklich Ausgang da oben«, sagte sie und fuhr wieder los.
    »Das wird der Herr Brauchle heute nicht so eng sehen, Frau Kriminalrätin«, meinte Jakubeit. »Er hat ein wenig andere Sorgen heute, glaube ich mal. Sie sollen ihm seine schönen Ordner ausgeräumt haben, erzählt man.«
    »So«, machte Tamar, »was erzählt ihr euch denn sonst so, wenn ihr erzählen wollt?«
    »Ja, das will man nicht immer«, meinte Jakubeit. »Aber so sind nun einmal die Menschen. Wenn man was von ihnen will, dann wollen sie nicht. Da muss man dann schon... sagen wir einmal, einen Fünfziger hinlegen, darunter tun sie es nicht.«
    »Ein Fünfziger, lieber Jakubeit, das sind hundert Mark, so leichthin legt man die nicht hin. Da möchte man schon vorher wissen, was die Erzählung taugt.«
    »Aber verehrte Frau Kriminaloberrätin«, sagte Jakubeit, »im Kino wissen Sie das vorher doch auch nicht.«
    »Da zahl ich auch keinen Fünfziger.«
    »Wenn das so ist«, meinte Jakubeit und lehnte sich in seinem Sitz zurück, »und es ist überhaupt kein Vertrauen da...«
    Vor ihnen sprang eine Ampel auf Rot. Tamar bremste ab und holte, als der Wagen stand, aus ihrer Jackentasche einen Geldbeutel heraus, in dem sich gerade noch zwei Zehn-Euro-Scheine befanden. Sie legte den einen Zehner in die Handschuhablage vor dem Beifahrersitz.
    »Ich will hören.«
    Die Ampel wechselte auf Gelb, und der Zehner war verschwunden.
    »Sie sind wegen Rolli-Rolf im Haus gewesen«, sagte Jakubeit. »Den hab ich gut gekannt. Der war auf dem Markt angefahren worden und saß seither im Rollstuhl. Da hat er den Namen her. Aber ich hab ihn danach kaum mehr gesehen. Wenn es nicht sein muss, geht einer freiwillig nicht ins Heim. Aber ich hab gewusst, dass er ein schönes Stück Geld bekommen sollte und was er damit hat tun wollen.« Er schwieg.
    »Zu dürftig für einen Zehner«, sagte Tamar.
    »Das interessiert Sie nicht, dass er jemand gesucht hat, der sich das Geld verdienen wollte?«
    »Womit?«
    Jakubeit schüttelte nur den Kopf, und Tamar legte den zweiten Zehner dazu.
    »Das war ein Gemüsehändler, der ihn zusammengefahren hat. Nicht irgendein Händler. Der Rotter Simon war das. Jeder von uns kennt den. Und Rolli-Rolf wollte, dass einer einen Traktor nimmt und den Rotter, wenn er allein auf seinem Acker ist, damit zusammenfährt. Das heißt, der sollte den so richtig überrollen, mit den großen Reifen drüber weg, einmal hin und einmal her.«
    Tamar ordnete sich nach links ein. Sie schüttelte den Kopf. »Und das soll der Kaminski so in Umlauf gebracht haben?«
    »Natürlich nicht. Wenn man ihn gefragt hat, dann hat er bloß gejammert, dass er kein Geld kriegt, von keinem. Aber jeder hat gewusst, dass er es irgendwo hatte. Nicht im Heim, natürlich nicht. Er hatte es irgendwo, aber so versteckt, dass nicht einmal der Brauchle drankam, und das will etwas heißen, aber der Rolli-Rolf war ein schlaues Kerlchen, das kann ich Ihnen sagen.«
    Die nächste Ampel gab Grün, aber sie mussten den Gegenverkehr abwarten. Schließlich bog Tamar nach links ab und fuhr in Richtung Innenstadt.
    »Was soll das heißen: dass nicht einmal der Brauchle drankam?«
    »Ach Gnädigste!«, antwortete Jakubeit. »Wissen Sie wirklich nicht, wie es in einem Heim für Leute wie unsereins zugeht?«
    Tamar schwieg. Natürlich wusste sie es. »Und? Hat Rolli-Rolf einen gefunden, der es macht?«
    Von Jakubeit kam ein merkwürdig kratzendes

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