Uferwald
Türrahmen und zeigte anklagend hinter sich, zur Quelle des anhaltenden Gellens: »Die schmeißt immer alles um!«
»Und dann hast du ihr eine gescheuert, das kennen wir doch«, antwortete Treutlein und stand auf. »Komm mit.« Vater und widerstrebender Sohn verschwanden, energisch die Tür zum Wintergarten hinter sich zuziehend. Trotzdem war das Kreischen im Kinderzimmer noch eine gute Weile zu hören, bis der Lärmpegel allmählich abebbte und im Gemurmel eines anhaltenden erzieherischen Gesprächs unterging.
»Wie gut haben Sie Tilman Gossler gekannt?«, fragte Kuttler.
»Was wollen Sie hören?«, fragte Isolde zurück. »Wir kannten uns seit der Grundschule. Wie gut kennt man sich da? Irgendwann ist man einander sehr vertraut, aber plötzlich ist alles anders, und der andere ist wie ein Fremder, und eigentlich weiß man gar nichts voneinander.«
»Diese Clique, von der Ihr Mann sprach – könnte man sagen, dass Sie untereinander befreundet waren, oder wie darf man sich das vorstellen?«
»Was Sie sich vorstellen, weiß ich doch nicht«, antwortete Isolde schroff. »Eine Clique ist eine Clique. Man trifft sich, weil man sich trifft. Ich glaube, es hat damit angefangen, dass wir nach einem grauenvollen nachmittäglichen Philosophiekurs alle noch eine Cola trinken gehen mussten oder ein Bier, und es war ausdrücklich verboten, dass irgendeiner existenziell oder tiefsinnig daherredet. Irgendwann gingen wir dazu über, uns freitagabends zu treffen, einfach so, um die Woche auszuschwitzen,um nicht zu Hause sein zu müssen – oder um uns zu vergewissern, dass wir nicht allein sinnlos in die Welt entlassen waren.«
»Hat es innerhalb der Clique einzelne, engere Beziehungen gegeben?«
»Ach Gottchen!« Isolde griff nach ihrer Handtasche und ließ sie wieder sinken. »Sie haben nicht zufällig eine Zigarette?« Kuttler schüttelte bedauernd den Kopf.
»Ist auch besser so. Eigentlich bin ich weg davon. Aber manchmal... Was hatten Sie gefragt? Ach ja. Einzelne engere Beziehungen. Sicher. Luzie hatte mal was mit Schleicher, entschuldigen Sie, jetzt verwende ich auch schon diese albernen Namen, mit Matthes also, das war sehr geheimnisvoll, aber alle haben es gewusst, das heißt, mein Mann hat’s sicher nicht mitbekommen.«
»Und zwischen Ihnen und Tilman?«
Sie blickte auf. »Sie stellen ziemlich alberne Fragen, wissen Sie das?«
Vom Flur her waren Schritte zu hören und halblaute Diskussionen über das Anziehen von Schuhen und Anoraks. Treutlein erschien in der Tür. »Ich würde gerne mit den Kindern noch auf den Spielplatz gehen, solange es noch einigermaßen schön ist.« Er blickte zu Kuttler. »Meine Frau kann Ihnen sicher alle Fragen beantworten.«
Kuttler nickte höflich, und Treutlein schloss die Tür.
Isolde saß da, schweigend, und wartete, bis die Haustür zufiel. »Zwischen Tilman und mir hat es eine solche Beziehung nicht gegeben.«
»Haben Sie es bedauert?«
Auf Isoldes Stirn bildete sich eine scharfe Falte. »Was hätte das geändert?«
Kuttler hatte das Gefühl, sie redeten miteinander nicht durch die Blume, sondern durch die stachelige Euphorbie hindurch, und rutschte mit dem Korbstuhl ein wenig zur Seite. »Im vergangenen Sommer haben Sie versucht, die Frau Gossler anzurufen,aber gesprochen haben Sie nur mit dem Anrufbeantworter. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon tot. Was wollten Sie von ihr?«
»Was denken Sie sich eigentlich?« Sie sah ihn zornig an. »Was kann ich von einer alten Frau wollen, die ihren Sohn verloren hat? Mich mit ihr unterhalten, aus Jux und Tollerei? Späßchen machen?«
»Sie beantworten meine Frage nicht.«
»Es war Tilmans Geburtstag«, sagte sie. »Und ich dachte, ich muss sie anrufen. Damit sie sieht, dass ich ihn nicht vergessen habe.«
Für eine Weile machte sich Schweigen breit. Isolde Treutlein war nicht sehr groß, eine kompakte Person mit kräftigen Hüften, das braune Haar kurz geschnitten. Ihre Augen waren dunkel und ausdrucksstark, aber jetzt sahen sie müde aus. Ich sollte sie besser in Ruhe lassen, dachte Kuttler und fragte doch weiter.
»Gab es auch Spannungen in Ihrer Clique?«
»Wir gingen uns auf die Nerven. Zuletzt immer mehr.«
»Als Sie in dieser Neujahrsnacht zusammensaßen, war da etwas anders als sonst?«
Isolde hob leicht den Kopf und betrachtete ihn, als verstehe sie die Frage nicht. »Die meisten hatten zu viel getrunken. Das ist, glaube ich, in einer solchen Nacht nichts Besonderes.«
»Erinnern Sie sich noch, was Sie gemacht
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