Uferwald
sagt, die Clique sei einfach auseinander gelaufen. Einfach so, aus Langeweile und Überdruss. Und das glaube ich ihm nicht.«
Sie überquerten die Straße und standen auch schon vor dem Gebäude, in dem Dannecker seine Kanzlei hatte. Es war ein Haus fast ohne jede Atmosphäre, in den späten vierziger oder frühen fünfziger Jahren gebaut, kein Fahrstuhl, eine Treppe aus Kunststein.
Die Kanzlei selbst lag im zweiten Stock. Geöffnet wurde ihnen von einer älteren Frau mit einem rötlichen Ausschlag im Gesicht, offenbar die Sekretärin, die sie in einen Warteraum mit engen durchgesessenen Sesselchen bat. Auf einem Tisch lagen Informationsbroschüren aus, mit nützlichen Tipps über das Verfassen eines Testaments und das Verhalten bei einem Verkehrsunfall im Ausland.
Kuttler sah zu der Garderobe, an der kein Mantel hing. Er warf einen Blick zu Tamar, und beiden war klar, dass Dannecker durchaus keinen Mandanten in seinem Büro hatte.
Er musste sie warten lassen, weil es sich so gehörte für ihn. Er musste sein Gesicht wahren.
Schließlich tauchte die Sekretärin wieder auf und bat sie in Danneckers Büro. Als sie das Sekretariat durchquerten, registrierte Kuttler, dass es dort zwar zwei Arbeitsplätze zu geben schien, aber nur einen Computer. Und einer der beiden Schreibtische war völlig leer und aufgeräumt.
»Das ist fast zu viel der Ehre«, sagte Dannecker und stand auf, als die Besucher sein Büro betraten. »Was macht der Herr Englin, wenn in dieser Stadt ausnahmsweise mal wirklich etwas passiert, und seine halbe Belegschaft sitzt hier bei mir?«
Er tauschte erst mit Tamar Wegenast, dann mit Kuttler einen Händedruck, bevor er die Besucher an seinen Besprechungstisch bat. Frühe achtziger Jahre, dachte Kuttler, als er auf einem mit beigem Noppenstoff bezogenen Stuhl Platz genommen hatte. An der Wand über dem Tisch hing eine gerahmte Reproduktion eines Gemäldes von Rouault, es war nicht klar zu erkennen, ob das Bild einen Heiligen oder einen Syphilitiker zeigte.
»Sie haben sicher einen Grund, mich aufzusuchen«, fuhr Dannecker fort. »Sicher haben Sie einen triftigen, einen zwingenden Grund.« Er wandte sich an Tamar. »Da ich mit Ihrem Kollegen bereits das Vergnügen hatte, bitte ich um Ihr Verständnis, dass ich meine Unterhaltungen mit der Polizei allmählich etwas zurückfahren möchte.«
Tamar ging nicht darauf ein. »Wir suchen eine junge Frau«, sagte sie. »Sie heißt Solveig Wintergerst. Wir hätten gerne gewusst, ob Sie uns etwas über ihren derzeitigen Aufenthaltsort sagen können.«
»Wird diese junge Frau vermisst?«
»Nein. Wir hätten nur gerne mit ihr gesprochen.«
»In Zusammenhang mit einem Verbrechen? Ist sie darin verwickelt?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Tamar vorsichtig.
»Das wissen Sie nicht«, echote Dannecker. »Aber irgendwie glauben Sie zu wissen, dass ausgerechnet ich Ihnen etwas über ihren Verbleib sagen kann.«
»Sie haben einmal eine Wohnung an sie vermietet«, sagte Kuttler. »Die Eigentumswohnung der Frau Stocketsrieder in Thalfingen. Solveig Wintergerst lebte dort von 1997 bis Januar 1999.«
Dannecker sah ihn an. »Ach, nach dem Heim Zuflucht haben Sie sich nun auf etwas Neues geworfen? Aber bitte.« Er schien zu überlegen. Dann stand er auf, ging zu seinem Telefon und rief – da er nur auf eine Taste drückte – offenbar seine Sekretärin an.
»Bringen Sie mir den Ordner Stocketsrieder.«
Dann kehrte er an den Tisch zurück. »An den Namen erinnere ich mich leider nicht, aber wir werden sehen.«
Schweigen machte sich breit. Kuttler blickte zu Tamar, und sie gab den Blick ruhig und gleichmütig zurück. Heute haben wir Zeit, sagte dieser Blick. Wenn wir eine Komödie vorgespielt bekommen, lassen wir sie uns vorspielen. Geduld!
Schließlich erschien die Sekretärin und legte einen prall gefüllten Aktenordner auf den Tisch. Dannecker schlug den Ordner auf und begann zu blättern.
»Hier«, sagte er schließlich und blickte auf, zu Tamar. »Jetzt beginne ich mich zu erinnern. Es war vielleicht nicht meine glücklichste Entscheidung. Nun ja, ich bin Rechtsanwalt, kein professioneller Wohnungsvermieter. Diese Solveig Wintergerst – das war doch der Name, nach dem Sie gefragt haben? – ist in der Tat Mieterin gewesen, und zwar insofern, als sie zwar die Wohnung bezogen hat, aber leider nicht in dem Sinn, dass sie dafür Miete bezahlt hätte. Deswegen ist das Mietverhältnis dann im Januar 1999 sehr plötzlich beendet worden. Aber überzeugen Sie
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