Uferwald
In spätestens einer halben Stunde sollte sich die Demonstration wieder auflösen, danach würden sie zuerst die Rommelfinger Landstraße für den Verkehr freigeben und dann die Rosenau, also rechtzeitig, bevor der Berufsverkehr einsetzte.
Vorne am Hochhaus, am Eingang zur Bankfiliale, balgten sich Kinder. Nein, sie balgten sich nicht, dachte Orrie. Sie standen einfach so da, am Gitter. Wieso am Gitter? Hatte die Bank wegen der Demonstration das Gitter heruntergelassen? Das würden ihre Kunden in der Nachbarschaft aber als recht unfreundliches Verhalten ansehen.
Was ging es ihn an? Auch Heilbronner war aufmerksam geworden und ging ein paar Schritte vor, auf das Hochhaus zu, als wollte er besser überblicken, was sich am Eingang tat.
»Vorsicht«, rief Orrie.
Es war zu spät. Der dickliche graue Hund hatte Heilbronner erblickt und stürzte zähnefletschend und keifend auf ihn zu, seinen Besitzer mit sich zerrend. Im Nu hatte sich ein Kreis neugieriger und feixender Beobachter gebildet, die dem zurückweichenden Heilbronner, dem tobenden Hund und seinem nur mühsam Tritt fassenden Herrchen zusahen.
Das hätte noch gefehlt, dachte Orrie, dass wir hier einen Hund totschießen müssen.
Hinter ihm fuhr ein Wagen holpernd die Auffahrt von der Tiefgarage hoch. Orrie warf einen Blick hinein, zwei Männer saßen darin, nein, drei, hinten hockte ein dritter neben einem großen weißen Kasten, der wie ein Kühlschrank aussah, offenbar war die Rückenlehne gekippt worden, damit der Kühlschrank hineinging, Orrie hätte einen Fünfziger gewettet, dass der Wagen überladen war. Aber sollte er das ausgerechnet jetzt beanstanden?
Der dritte Mann hob grüßend die Hand.
Der Besitzer des grauen Köters hatte endlich Tritt gefasst und konnte seinen Hund zu sich her ziehen.
Orrie trat rückwärts zwei oder drei Schritte auf die Straße hinaus, den linken Arm ausgestreckt, als Zeichen, dass man Platz machen solle, und winkte den Opel auf die Rommelfinger Landstraße hinaus, damit er mitsamt seinem Kühlschrank wegfahren konnte und aufgeräumt war.
Inzwischen kam rund um das Hochhaus Bewegung auf. Leute liefen weg, andere drängten sich zu den beiden Polizisten.
Irgendwas ist da komisch, dachte Orrie. Auch das Auto war komisch gewesen. Er war sich fast sicher, dass er das Auto kannte. Und der dritte Mann, der neben dem Kühlschrank, hatte wie Kuttler vom Dezernat Römisch Eins ausgesehen.
Wie man sich doch täuschen kann.
Der Opel war über die Rommelfinger Landstraße gekrochen, an dem Bahnhof Ulm-West vorbei und weiter die Stadt hinaus, bis rechts die ersten Steinbrüche des Blautals in Sicht kamen.
Wanja hatte halten wollen, aber Brötchen hatte es nicht erlaubt. Kuttler hockte hinten neben dem Kühlschrank und sagte nichts. Vielleicht war das Schlimmste überstanden.
Nur war nicht gesagt, dass das auch für ihn galt.
Schließlich waren sie nach rechts abgebogen, von wo aus es durch ein enges Tal wieder zurück zu den nördlichen Stadtteilen ging. Nach fünfhundert Metern kamen sie an einen Waldparkplatz, Wanja bog ab und fuhr, bis sie zu einer Schranke kamen. Die beiden Männer stiegen aus.
»Hilf uns, die Seile da abzumachen«, sagte Wanja zu Kuttler und winkte mit dem Revolver zum Zeichen, dass er ebenfalls aussteigen solle. Es war ein großes Kaliber, aber Kuttler hätte nicht sagen können, was es für ein Fabrikat war.
Die Heckklappe war gut verschnürt worden, und Heimerdingers Seile saßen fest. Vielleicht war es auch so, dass Kuttlers Hände zitterten. Es ist nie gut, Angst zu zeigen, dachte Kuttler. Angst ist überhaupt nie gut. Allenfalls dann, bevor es in den Krieg geht. Er zwang sich, die Knoten aufzuknüpfen, und schließlich löste sich das Geflecht. Die Heckklappe schwang nach oben, und Brötchen zog – als ob es nur eine Plastikverpackung wäre – den Kühlschrank aus dem Wagen und wuchtete ihn auf die grasbewachsene Böschung des Waldweges.
»Du bist also Polizist«, sagte Wanja und sah Kuttler aus grünen Augen an. Wanja trug eine Lederjacke, die vom Alter schon rissig und verfärbt war. »Warum hast du uns geholfen?«
»Hättet ihr eine Schießerei haben wollen«, fragte Kuttler zurück, »mit all den Leuten draußen?«
»Ich seh schon«, sagte Wanja, »du bist ein ganz Schlauer.« Oben auf dem Bruststück seiner abgetragenen und rissigen Lederjacke waren zwei Flecke. »Geh!« Mit der freien linken Hand deutete Wanja in den Wald. Der Revolver war noch immer auf Kuttler gerichtet.
Der Wald war
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