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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel
Autoren: S Mann
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fragen. Ich finde es ungerecht, dass sie mir unser Kind vorenthalten hat. Aber wenn Joana hierherkommt, werde ich versuchen aufzuholen, was wir verpasst haben.«
    »In welcher Erscheinungsform? Papa Gustavo oder Mama Miranda?«
    Miranda nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und sah mich dann so unglücklich an, dass ich sie einfach an mich drücken musste.
    »Noch hast du ja etwas Zeit«, versuchte ich, sie zu trösten. »Uns wird schon etwas einfallen.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob mich das beruhigt«, schluchzte sie.

Dienstag
    Es war kurz nach Mitternacht, als ich in die Dienerstrasse einbog. Noch immer fiel Schnee und ich erkannte meinen Käfer nur noch an der abgerundeten Erhebung im endlosen Weiß. Der Abend hatte sich wegen Mirandas verspäteter Mutterschaft, die gebührend gefeiert werden wollte, in die Länge gezogen, doch jetzt freute ich mich auf einen klitzekleinen Schlummertrunk vor dem Zubettgehen.
    Mit klammen Fingern klaubte ich meinen Schlüssel aus der Tasche, als mir eine Gestalt auffiel, die sich vom anderen Ende der Straße her durch das Schneegestöber kämpfte. Vor dem Haus, in dem ich wohnte, blieb sie stehen und blickte hinauf, bevor sie unter das Vordach trat und eine Klingel drückte. Aus der Distanz war es für mich unmöglich zu erkennen, welche genau. Dafür kam mir der Mantel sehr bekannt vor: Kamelhaar, sandfarben. Ich duckte mich hinter meinen Wagen.
    Tobler betätigte die Klingel erneut, dann machte er einen Schritt zurück und guckte wieder hinauf. Das fahle Licht der Lampe neben der Haustür machte deutlich, wie angespannt er war. Seine Kieferknochen standen vor, der Blick war gehetzt. Bob musste ihn über den Diebstahl der Akte unterrichtet haben, und er hatte nicht nur seine Befürchtungen bestätigt gesehen, er schien auch ganz genau zu wissen, wer die Unterlagen entwendet hatte. Offenbar war er bereit zu verhandeln, denn hätte er mich wie Said und Nils umbringen wollen, hätte er kaum vorher geklingelt.
    Ich überlegte mir, ob es klug war, Tobler gleich vor Ort mit der Akte zu konfrontieren. War er wirklich der Mörder, begab ich mich in Gefahr, denn bislang wusste niemand außer ihm und Bob, dass ich im Besitz der Akte war.
    Ich beobachtete Tobler noch immer, als er plötzlich sein Mobiltelefon ans Ohr presste. Er nickte ein paar Mal. Noch während er sprach, entfernte er sich bereits, und nachdem er das Handy in seine Tasche zurückgesteckt hatte, rannte er los.
    Verdutzt blickte ich ihm hinterher. Etwas Wichtiges musste vorgefallen sein, anders konnte ich mir diesen Abgang nicht erklären. Nun würde ich mich definitiv zu einem späteren Zeitpunkt mit ihm unterhalten müssen. Doch immerhin war die Auflösung des Falles in greifbare Nähe gerückt. Dachte ich.
    Ich schenkte zwei Fingerbreit Amrut in ein Glas, ließ mich mit einem wohligen Seufzer aufs Bett fallen und schaltete den Fernseher ein. Beim Zappen durch die Kanäle blieb ich bei einem Privatsender hängen. Ein solariumgerösteter Esoteriker, der mit seinen rosa schimmernden Glosslippen und dem langen, von einem bunten Stirnband zusammengehaltenen Haar wie Winnetous dicke, beleidigte Schwester aussah, legte zu einem horrenden Minutenpreis die Karten für Anrufer. Dazu gab er mit salbungsvoller Stimme pathetische Nichtigkeiten von sich. Ich guckte ihm einen Weile zu und rechnete dabei nach, dass die ältere Frau in der Leitung für die anfallenden Gebühren längst eine exklusive Flasche Whisky hätte kaufen können. Das hätte zwar ihre Probleme genauso wenig gelöst wie der Kartenleger, hätte aber deutlich mehr Spaß gemacht. Ich fragte mich, wie verzweifelt man sein musste, damit man sich in aller Öffentlichkeit von so jemandem beraten ließ. Aber ich hatte ja eben erst erfahren, dass es Menschen gab, die sich in ihrer Not weit gefährlicheren Beratern anvertrauten. Für heute hatte ich genug von Menschen und ihren Problemen. Ich tastete gerade nach der Fernbedienung, als mich José anrief.
    Fünfzehn Minuten später rannten er und ich quer durchs Arboretum, eine mit Bäumen bepflanzte Parkanlage am Seebecken. Frisch gefallener Schnee stob auf und im schwarzen Wasser des Zürichsees spiegelten sich glitzernd die Lichter des gegenüberliegenden Bellevues und des Opernhauses. Als wir in den Gehweg einbogen, der am Ufer entlangführte, sahen wir auch schon das flackernde Blaulicht.
    José riss noch im Laufen die Kamera vors Gesicht und schoss eine Serie von Bildern, doch je näher wir dem Geschehen kamen,
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