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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel
Autoren: S Mann
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voneinander zu unterscheiden. Wie in dem alten Musikvideo mit George Michael und Mary J. Blige, wo die beiden in einer leeren Discothek singen und sich aus nicht nachvollziehbaren Gründen vervielfältigen. Nur dass hier weit und breit keine Mary zu entdecken war.
    Ebenfalls vermisste ich Federboas und groteskes Make-up, haarige Männerbeine in Netzstrümpfen und alternde Transvestiten mit lackroten Stilettos. Und im Hintergrund lief zwar billiger Techno, aber keineswegs Marianne Rosenberg, wie mich jeder Tatort , in dem ein Schwulenlokal vorkam, glauben machte.
    Ich war etwas enttäuscht. Meinen ersten Besuch in Balthasars Bar hatte ich mir spektakulärer vorgestellt, aufregender irgendwie und weniger normal. Denn so waren die Gäste: normal. Wäre ich nicht im Bilde gewesen, hätte ich nur an der Abwesenheit weiblicher Barbesucher bemerkt, wo ich mich aufhielt.
    Vielmehr wurde mir mein Aufzug mit jedem Schritt peinlicher. Ich trug bei Weitem das auffälligste, um nicht zu sagen tuckigste Outfit im Raum.
    »Na, Kleiner, hast du dich verirrt?«, knurrte ein massiger Bär im hautengen Tanktop, als ich mich an ihm vorbeidrückte. Während ich um eine Antwort rang, starrte ich irritiert auf die schwarzen Haarbüschel, die wie die Nester eines unheimlichen Tieres auf seinen Schultern klebten.
    »Die Schlagerparty findet am Limmatplatz statt«, mischte sich mit fürsorglicher Miene ein zweiter Typ ein, der eine Ledermütze tief in sein Milchbubengesicht gezogen hatte.
    »Äh …«
    »Da bist du ja!« Balthasars Stimme rettete mich aus meiner misslichen Lage. »Unsere Stammgäste nutzen diesen Korridor als Catwalk, bei dir sieht’s eher nach einem Spießrutenlauf aus.« Balthasar trug ein Tablett voller Bierflaschen, die er flink an die ringsum Spalier stehenden Männer verteilte. »Ich hab schon gedacht, du kommst nicht mehr«, sagte er über die Schulter hinweg.
    »Ich musste erst die Garderobenfrage klären.«
    »Und du hast die falschen Antworten bekommen«, bemerkte Balthasar, während er mich spöttisch musterte.
    »Ist er da?«, erkundigte ich mich, worauf er mit dem Kinn zur Bar wies, die sich im hinteren Teil der ehemaligen Garage befand.
    Der Gang mündete in einem offenen Raum, der gut besucht war. Das Licht heruntergedimmt, aber nicht schummrig. Einige Stehtische waren im Raum verteilt, ein schwarzes Ledersofa thronte auf einem Podest und die Wände waren in Anlehnung an den ehemaligen Verwendungszweck der Räumlichkeit mit Werkzeug und Karosserieteilen dekoriert. In einer Ecke hüpfte eine Gruppe Männer in fleckigen Unterhemden und mit zotteligen Bärten im Takt der Musik. Wie eine Talibanversammlung nach einem gelungenen Anschlag, schoss es mir durch den Kopf. Vielleicht waren es aber auch nur Touristen aus Berlin.
    Eine große Glasscheibe gab den Blick frei auf den Fetischladen im Nebenraum. Als ich beiläufig hinübersah, fiel mir auf, dass der Käfig nicht mehr dort stand.
    Einige der Gäste hoben den Kopf und fixierten mich, als ich zielstrebig auf die Bar zusteuerte, hinter deren Tresen Paul stand und mich erfreut zu sich winkte.
    »Du bist Frischfleisch«, grinste er. »In einer kleinen Stadt wie Zürich kennt jeder jeden. Wenn dann ein Neuer reinstolpert, herrscht jedes Mal gleich große Aufregung. Aber das legt sich rasch.« Er taxierte mich kritisch. »Vor allem bei deiner Aufmachung. Dagegen wirkt selbst Harald Glööckler wie eine biedere Sonntagsschullehrerin.«
    »Das habe ich mittlerweile auch eingesehen.«
    Natürlich war die Szene gerade im Kreis 4 durchmischt. In den Klubs und den meisten Bars war Platz für alle sexuellen und anderen Ausrichtungen, zudem hatte ich in Miranda eine gute Freundin, die früher ein guter Freund gewesen war und der ihr üppiger Busen unverhofft im Brasilienurlaub zu sprießen begonnen hatte, wie sie selbst gerne scherzte. Ich litt nicht unter Berührungsängsten, doch bis anhin war ich noch nie in einer reinen Schwulenbar gewesen, weil es keinen zwingenden Grund dazu gegeben hatte. Ich hatte ernsthaft gedacht, dort würden verruchtere Sachen ablaufen. Aber wenn ich mich so umsah, hätte ich mich genauso gut auf einer After-Work-Party für Versicherungsangestellte befinden können, bei der sich der ein oder andere Bauarbeiter eingeschlichen hatte – allerdings erst nach einer ausgedehnten Maniküre, wie mir ein Blick auf die überhaupt nicht schwieligen Finger meines Nebenmannes offenbarte. Der englischsprachige Aufdruck auf seinem ärmellosen T-Shirt verriet
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