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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel
Autoren: S Mann
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den Kopf, während er umständlich in einen Wollpullover schlüpfte, der auf dem Barhocker gelegen hatte.
    »Du kannst jetzt nicht einfach gehen!«, versuchte ich, ihn aufzuhalten, als er zur Jacke griff, die unter dem Tresen an einem Haken hing. »Der Junge wurde brutal ermordet!«
    Der Alte fuhr herum und sah mich mit seinen wässrigen Augen wütend an. »Was die kleine Ratte sonst so getrieben hat, ist mir völlig egal! Damit will ich nichts zu tun haben! Merk dir das, du Schnüffler!«
    Feindselig. Nur so konnte ich umschreiben, wie mich die beiden Jungs anstarrten, die nur wenige Reihen von mir entfernt saßen. Der Bus aus Altstetten in die Stadt hinein war wie immer am Freitagabend um diese Zeit brechend voll, und ich hatte keinen Sitzplatz mehr gefunden, als ich an der Langstrasse zugestiegen war. Also hatte ich mich ans Fenster gelehnt und betont gleichgültig hinausgeschaut, während die beiden etwa Achtzehnjährigen mich vom ersten Augenblick an grimmig fixiert hatten. Jetzt bemerkte ich, wie sich auch drei junge Frauen auf der hintersten Bankreihe immer wieder tuschelnd anstießen, zu mir herüberblickten und im Anschluss laut kicherten. Ich fühlte mich zunehmend unbehaglich, was nicht nur an meinem Hemd lag, dessen synthetischer Stoff auf der Haut zu jucken begann.
    Der Bus hielt vor einem hell erleuchteten Kebabstand und fuhr ein Stück der Sihl entlang, bevor er den Fluss überquerte.
    Die beiden Männer flüsterten jetzt leise miteinander, einer verzog angewidert das Gesicht, während er mit dem Kinn in meine Richtung deutete. Ich sah schnell weg. Hunden und jungen Männern sollte man nie zu lange in die Augen blicken, das provozierte sie angeblich nur.
    Wenigstens war ich den meisten anderen Buspassagieren gleichgültig, wie es schien. Einzig eine ältere Frau lächelte mich an, doch vermutlich stellte sie sich gerade vor, was für eine hübsche, farbenprächtige Ergänzung mein Hemd für ihren selbst gesteppten Quilt abgeben würde, hatten mich die beiden Typen erst spitalreif geschlagen.
    Die Fahrt zum Central schien endlos zu dauern. Ich versuchte, nicht zu lange in Richtung desselben Fahrgasts zu gucken. Bevor die zwei jungen Kerle am Hauptbahnhof den Bus verließen, warfen sie mir noch einmal verächtliche Blicke zu.
    »Schwuchtel!«, zischte einer.
    Das war unnötig gewesen, ich hätte auch so begriffen.
    Balthasar hatte mich zur Eile gedrängt, die Bars seien nur bis etwa Mitternacht gut besucht, danach würden alle ins T&M pilgern, dem gegenwärtig einzigen Klub im Niederdorf. Bei der lauten Musik und einem Partyvolk, das um die Zeit kaum mehr nüchtern war, würde es für mich viel schwieriger werden, etwas über den Jungen zu erfahren.
    Also hatte ich mich unverzüglich auf den Weg gemacht, aber nicht bevor ich den Namen des wutschäumenden alten Mannes in Erfahrung gebracht hatte.
    Kurt Binggeli hieß er, und ich hatte das dunkle Gefühl, dass er mir schon bald wieder über den Weg laufen würde. Unsere Unterredung hatte einige Fragen offengelassen, auf die ich gerne näher eingegangen wäre. Den Small Talk würde ich mir bei unserem nächsten Treffen allerdings sparen.
    Die Zähringerstrasse verlief parallel zur Niederdorfstrasse, der touristischen Hauptachse durch die Altstadt, die man von hier über steil abfallende Gässchen erreichte, und war vergleichsweise ruhig. Zu meiner Linken befanden sich ein Arthousekino, daneben ein Pub und ein Möbelfachgeschäft. Das Hotel mit der grauen Fassade dazwischen war immer noch mit Martahaus beschriftet und war früher ein Mädchenheim gewesen, betrieben von den ›Freundinnen junger Mädchen‹ – eine etwas unheimliche Bezeichnung, die mich jedes Mal schaudern ließ, wenn ich daran vorbeiging.
    Die Freunde junger Knaben hingegen trafen sich auch heute noch direkt gegenüber, in einem winzigen Lokal, das mit gelben Markisen und tannengrün gestrichener Front auffiel. Carrousel hieß das Etablissement und entsprechend hing auch ein Karussellpferdchen in Originalgröße über der Theke. Als ich die schmale Treppe hochgestiegen und zuoberst stehen geblieben war, um mich in der mit einigen Stehtischen und einem kurzen Tresen bescheiden ausgestatteten Bar umzusehen, erntete ich zwei Arten von Blicken: Die einen waren unverhohlen feindselig und stammten ausnahmslos von den jungen Männern, die dem Aussehen nach aus Osteuropa stammten, die andern waren entweder angeödet oder lüstern und wurden mir von den älteren Männern zugeworfen, welche die
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