Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
Vom Netzwerk:
gern zur Metropole aufplusterte und sich in gewagten Momenten für ein kleines New York hielt – eine übersichtliche Stadt war, und wie es schien, teilte man in gewissen Kreisen nicht nur die Vorliebe für junge Männer, sondern auch gleich die jungen Männer selbst.
    In der Absicht, mir nach dem bis anhin sehr geschäftigen Tag eine kleine Pause zu gönnen, machte ich es mir auf der Treppe vor den Liften so bequem wie möglich. Hier würde ich Binggeli auf keinen Fall verpassen, wenn er zurückkehrte, und konnte solange die bisher gesammelten Informationen zu meinem Fall analysieren.
    Doch ich kam nicht weit mit meinen Überlegungen. Wie von einem starken Magneten angezogen, strebten meine Gedanken immer wieder zum Zigarettenpäckchen in meiner Jackentasche. Schließlich gab ich es auf und holte die zerdrückte Schachtel hervor. Der Tabak roch würzig und ein wenig süßlich, als ich an der Zigarette schnupperte, und ehe ich mich versah, verwandelte sie sich in meiner Hand zum Begehrenswertesten auf der ganze Welt. Ich stellte mir mit halb geschlossenen Augen den Rauch vor, wie er leicht in meine Lunge drang, den Geschmack im Mund, den Nikotinrausch im Gehirn. Dann das erneute Ziehen, die zarte Berührung mit den Lippen, das Ausstoßen des blauen Dunstes. Ich zwang mich, an den Mundgeruch zu denken, die Atemlosigkeit nach der kleinsten Anstrengung, den Gestank in den Kleidern, den Haaren, in der Bettwäsche am nächsten Morgen, die Hustenanfälle und das gelegentliche Würgen beim Zähneputzen – es half alles nichts. Völlig selbstständig erfand mein Gehirn zwingende Gründe, die für diese eine Zigarette sprachen. Gegenargumente wurden der Lächerlichkeit preisgegeben oder ignoriert. Hätte ich ein Feuerzeug zur Hand gehabt, wäre die Zigarette in der nächsten Sekunde angezündet gewesen. Glücklicherweise hatte ich keins dabei. Ein letztes Mal noch roch ich sehnsüchtig an der Fluppe, bevor ich sie mit einer ungeheuren Willensanstrengung in die Schachtel zurückschob, diese zerknüllte und hastig den Treppenschacht hinunterschleuderte. Es dauerte nicht lange, bis sich mein aufgewühlter Geist wieder beruhigt hatte, was ich erleichtert zur Kenntnis nahm. Während ich mich noch über die teuflische Macht wunderte, die diese Droge über mein Gehirn ausübte, setzte sich der Aufzug in Bewegung.
    Ich stieg ein paar Treppenstufen hinauf und kauerte mich nieder, damit ich den Durchgang zur Galerie im Auge behalten konnte. Rauschend näherte sich der Fahrstuhl und bremste ab. Die Tür wurde aufgestoßen und als Erstes wuselte Tina Turners Perücke in den Korridor, erst dann sah ich die Leine, die zu Kurt Binggelis Hand führte. Die gefütterte Winterjacke ließ ihn massiger erscheinen, als ich ihn von der Bar in Erinnerung hatte.
    Geräuschlos erhob ich mich, eilte die Treppe hinunter und folgte ihm und dem Haarbüschel, das sich als Pekinese herausstellte und gerade von seinem Herrchen von der Leine gelassen wurde. Leider nicht unauffällig genug. Auf halber Strecke wirbelte das Hündchen herum und glotzte mich aus Kulleraugen an, bevor es erstaunlich bösartig zu knurren begann. Beschwichtigend legte ich den Finger an die Lippen, doch durch meine hastige Bewegung erschreckt, bellte das Viech los, worauf Binggeli einen alarmierten Blick über die Schulter zurückwarf. Als er mich entdeckte, blieb er wie erstarrt stehen, derweil sich sein Mund karpfenartig öffnete und schloss, ohne dass dabei ein Ton zu hören gewesen wäre.
    »Herr Binggeli! Ich muss mit Ihnen reden!«, rief ich ihm zu und beschleunigte meine Schritte. Meine Worte wirkten offensichtlich wenig beruhigend auf ihn, denn er drehte sich hastig ab und stakste auf seine Wohnungstür zu, während er gleichzeitig einen Schlüsselbund aus seiner Jacke nestelte.
    Ich rannte die letzten Meter, doch er war bereits in die Wohnung geschlüpft und schlug mir die Tür vor der Nase zu, so energisch, dass sie gleich wieder aufsprang. Ohne lange zu überlegen, warf ich mich dagegen. Binggeli kreischte mehr empört denn erschrocken auf, als er rückwärts gegen die Garderobe prallte.
    »Sie schon wieder! Ich rufe auf der Stelle die Polizei!« Zielstrebig trippelte der Alte auf den Telefonapparat zu, ein flaches Modell in beige, das noch aus den Achtzigern zu stammen schien. Er riss den Hörer hoch und streckte ihn mir entgegen, als halte er eine Pistole in der Hand.
    »Wie passend. Genau dasselbe hatte ich auch vor, Herr Binggeli. Wollen Sie der Polizei von Ihrem

Weitere Kostenlose Bücher