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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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»Ich will ganz offen sein.«
    Ich stöhnte innerlich. Leute, die ankündigten, offen sein zu wollen, kamen in der Unglaubwürdigkeits-Hitparade kurz nach denjenigen, die von sich behaupteten, sie seien ganz unkompliziert.
    »Am Anfang erlebe ich von Ratsuchenden oft Abneigung und Misstrauen. Das ist nur natürlich, denn die Gesellschaft stellt nichts mehr infrage. Alles ist normiert und soll bleiben, wie es ist, für alles gibt es eine Schublade. Aber manche Leute gehören in keine Schublade. Diese Leute suchen die Veränderung, sie wollen mehr vom Leben. Ich bin so ein Mensch und du auch.«
    Ich wollte Bob unterbrechen, doch er hob erneut die Hand, pathetisch, wie ein Rockstar im Stadion vor der Powerballade.
    »Doch manchmal ist es schwierig, zu sich selbst zu finden. Man ist verwirrt von all den vorgefassten Meinungen, von den Erwartungen seiner Umwelt. Wir sind dazu da, dich aus dieser Orientierungslosigkeit zu leiten. Deswegen auch der Name Sanduhr : Es ist nie zu spät! Man kann die Uhr umdrehen und alles beginnt von vorn, es ist ein ganz neues Leben, das Gott dir schenkt. Denn Gott liebt dich!«
    Ich blähte dezent die Wangen und er salbaderte noch eine ganze Weile über Gott, dass der dies konnte und jenes und wen er alles liebte, bis ich seinen Redefluss etwas ungehalten unterbrach: »Aber ich verstehe nach wie vor nicht, was genau von vorn beginnen soll. Was das für mich bedeutet!«
    Auf der Webseite hatte ich nur vage Hinweise zum Angebot der Organisation gefunden. Ähnlich wie Bobs Rede war sie voller schwurbeliger Formulierungen, ohne jemals eindeutig zu werden.
    Deswegen hatte ich mich entschlossen, nochmals den Schal meines schwulen Outfits umzulegen und mich bei Bob als potenzieller Patient – oder wie auch immer er seine Kunden nennen mochte – auszugeben. Vorerst zumindest. Sollte er erneut versuchen, mich zu umarmen, würde ich meine Camouflage zu meinem eigenen Schutz auf der Stelle fallen lassen. Aber so was von.
    »Nun.« Bob presste die Handflächen zusammen und legte die Fingerspitzen an seine Unterlippe. »Wir unterstützen dich dabei, den Weg zu dir selbst zu finden. Wir helfen dir, deine inneren Widerstände zu lösen. Viele Menschen, die zu uns kommen, empfinden ihre Sexualität als konflikthaft. In intensiven Einzelgesprächen lernt der Suchende bei uns, angst- und aggressionsfrei damit umzugehen. Die Entscheidung, wie er seine Sexualität ausleben will, liegt dabei ganz beim Suchenden selbst.«
    »Wie großzügig«, warf ich trocken ein, doch Bob ließ sich nicht beirren.
    »Mit Gebeten und im Verbund mit anderen Betroffenen wirst du anschließend lernen, zu deiner wahren sexuellen Identität und zu Jesus zurückzufinden«, schloss Bob seinen Vortrag, der höchstwahrscheinlich einem der Werbeprospekte neben dem Eingang entstammte.
    »Klingt nach Therapie!«
    Bob wiegte milde lächelnd den Kopf. »Wir nennen es Beratung. Dabei nehmen wir deinen Wunsch nach Veränderung sehr ernst.«
    »Ich soll mich verändern? In was denn?« Endlich wurde er deutlich. Ich überschlug die Beine und legte beide Hände auf mein Knie. Von Miranda hatte ich gelernt, dass kein heterosexueller Mann jemals so dasitzen würde. Nicht ohne Gewaltandrohung.
    Bobs Lächeln verbreiterte sich. »Mein Lieber, weswegen bist du hier?« Er sah mich fragend an und ich setzte eine betont nichtsahnende Miene auf.
    »Ich werde es dir sagen: Weil du nicht mehr so weiterleben willst wie bisher!«
    »Auf gar keinen Fall!«, bestätigte ich nachdrücklich.
    »Eben. Deswegen begleiten wir dich auf dem Weg aus der Homosexualität zum Dasein als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft.«
    »Das bedeutet, ihr polt Schwule um?«
    Bob zuckte zusammen. »Nein! Natürlich nicht! Unsere Tätigkeit ist rein unterstützend.«
    »Ach so?« Mir war, als wäre ich soeben in ein längst vergangenes Zeitalter zurückkatapultiert worden. Ungefähr in eine jener Ären, als noch Hexen verbrannt worden waren oder man die Erde für eine Scheibe gehalten hatte.
    Bob rutschte auf seinem Stuhl herum. »Selbstverständlich wissen wir, dass Homosexualität 1992 durch die WHO von der internationalen Liste der Erkrankungen gestrichen wurde.«
    »Aber ihr bietet trotzdem die Heilung einer Krankheit an, die offiziell gar nicht existiert?«
    »Wir sprechen hier nicht von Krankheit! Aber es gibt Leute, die hadern mit ihrem Schicksal als Lesbe oder Schwuler. Leider bekräftigt die westliche Gesellschaft sie darin, indem sie diese Lebensform toleriert, ja sogar

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