Uhrwerk Venedig (German Edition)
über Scanzo und seine Heimlichtuerei. In dieser Werkstatt musste ein Genie arbeiten, dessen Geheimnisse Leonardo begierig kennen lernen wollte.
Ohne auf eine Aufforderung seines Begleiters zu warten, drückte er das unverschlossene Tor auf.
Sie blickten in eine langgestreckte Halle. Entlang der Wände standen dunkle, schwere Holztische, an denen Handwerker saßen. Mit Erstaunen erkannte Leonardo, dass es sich größtenteils um Frauen handelte. Sie saßen auf Holzschemeln, den Rücken zum Mittelgang gerichtet. An den Wänden entlang bewegte sich mit ungeheurer Schnelligkeit ein riesiger Transmissionsriemen. Von den Tischen aus ragten Metallarme mit Rollen, die bei Bedarf auf den Riemen aufgesetzt werden konnten. Dadurch wurden Apparate verschiedenster Art angetrieben, die von den Handwerkern zur Bearbeitung genutzt wurden. Leonardo schaute nach oben. Unter den Dachbalken brannte ein gleißendes Feuer, dessen Licht durch geschickt angebrachte Spiegel an jeden Arbeitsplatz gelenkt wurde. Offensichtlich konnte man am Tage das Dach öffnen und anstelle des Feuers das Sonnenlicht nutzen.
Scanzo führte sie in das Innere der Halle. Je weiter sie gingen, umso kleiner und filigraner wurden die Werkzeuge und die damit hergestellten Objekte. Keiner schaute zu ihnen auf. Schließlich endete die Tischreihe, und sie gingen rechts durch einen Verschlag in einen großzügigen hohen Raum, ein Laboratorium.
Auch hier surrte entlang einer Wand der unermüdliche Treibriemen. In der Mitte des Raums brannte, durch mechanische betriebene Blasebälge angefacht, ein fast weißglühendes Kohlenfeuer, in dessen Hitze Glas geschmolzen wurde. Es floss durch eine steinerne Rinne am Boden bis zu einer Öffnung und verschwand dort mit dumpfem Zischen.
Ein kleiner Kerl bückte sich dort und blickte durch ein dunkles Glas, das er in einer Metallfassung vor sein Gesicht hielt, hinein und murmelte vor sich hin.
Sein Schatten wuchs riesig an, als plötzlich aus der Öffnung intensiv helles, blaues Licht drang. Die Besucher konnten nach wenigen Sekunden außer seinem Umriss nichts mehr erkennen und mussten die Augen abwenden. Bevor sich die beiden wieder orientieren konnten, war das Männchen bei ihnen. Leonardo sah ein schiefes Gesicht, der Mund voller kreuz und quer stehender Zähne, und eine riesige Nase unter stechend klaren Augen voller Intelligenz und Wachheit auf sich gerichtet. Das Wesen reichte ihm lediglich bis an die Brust, schien es aber an Kraft und Geschwindigkeit leicht mit ihm aufnehmen zu können. Die kurzen Arme und Beine waren kräftig, die Hände langgliedrig und sehnig. Mit einer schnellen Bewegung packte das Wesen einen schweren Hocker und stellte ihn vor sich hin.
Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen: »Ihr habt es vollbracht, mein lieber Scanzo, Ihr habt den Meister herbeigeschafft.«
Dabei starrte er unentwegt Leonardo ins Gesicht.
»Setzt Euch doch, mein Herr.« Seine riesigen Hände öffneten sich, als wollten sie Hände voller Blüten auf den Hocker ausgießen.
»Wer seid Ihr?«, fragte Leonardo und zuckte etwas zurück.
»Nein, nein, keine Sorge. Ihr seid hier bei Freunden. Mein Name ist Flavio Petrucci, der Mechaniker und Alchemist ... zu Euren Diensten. Ich bin ein Bewunderer Eurer Arbeit, verehrter Meister Leonardo. Eure mechanischen Wunderwerke, die Getriebe, Gefährte, Fluggeräte und Tauchboote, ich kenne sie alle. Scanzo hat mir davon berichtet. Ich bin euer untertänigster Schüler. Obwohl ... in manchen Belangen kann ich Euch vielleicht auch etwas lehren.« Er grinste schief. »Aber ich sehe, unserem gemeinsamen Freund geht es schlecht. Lasst mich erst ihm helfen.«
Leonardo, der mit zunehmender Wut zugehört hatte, da ihm langsam klar wurde, dass Scanzo schamlos all seine Geheimnisse gestohlen und nach Venedig verkauft hatte, trat zur Seite. Petrucci nahm Umberto Scanzo bei der Hand. Dieser sah inzwischen fast aus wie eine Leiche. Er stand gebückt und schwankend da. Mit schlurfenden Schritten folgte er Petrucci zu einem Gestell an der Wand. »Hier hinein«, murmelte dieser. »Gleich seid Ihr wieder Ihr selbst.« Scanzo stand mit dem Rücken zur Wand in dem Gestell, als Petrucci einen Fußhebel entschlossen nach unten drückte. Ein metallischer Klang und ein Surren ertönten. Aus dem Gestell entfalteten sich, wie Krakenarme, metallen glänzende Greifwerkzeuge. Sie bewegten sich ein paar Mal auf und ab und standen kurz still. Dann geschah alles ganz schnell. Mit einem Schleifen fuhren Metallbänder um
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