Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
schießen?« Ich war viel zu schlapp, um mich anständig aus der Sache herauszuwinden, also sagte ich einfach »Ja«. Mein Gott, was hatte ich nur getan! Jetzt war es zu spät für einen Rückzieher, als Schütze Nummer drei stand ich auf dem Zettel von Schiedsrichter Roth.
Der erste Elfmeter, dafür hatte Jupp unseren sichersten Mann ausgeguckt: Lothar Matthäus. Der Mann, der nach diesem Spiel zu den Bayern aus München wechseln würde. Mit meinen Mitspielern stand ich am Mittelkreis und musste das Drama hilflos mit ansehen: Wie Lothar anlief, gegen den Ball trat und die verdammte Kugel über das Tor von Jean-Marie Pfaff schoss. Eine Katastrophe. Aber noch waren wir ja nicht verloren. Sören Lerby für die Bayern – Tor. Kai-Erik Herlovsen für Mönchengladbach – Tor. Norbert Nachtweih – Tor. Uli Borowka.
Gut 40 Meter sind es vom Mittelkreis bis zum Elfmeterpunkt. 40 Meter Zeit für viel zu viele Gedanken. Sollte ich nach rechts, nach links, nach oben, nach unten schießen? Mit der Seite, Vollspann, gar mit der Pike? Ehrlich gesagt, ich wusste es nicht. Nicht auf den 40 Metern, nicht als ich mir den Ball zurechtlegte, nicht als ich anlief. Dann im letzten Moment der Befehl an meinen rechten Fuß: Vollspann, einfach drauf. Ein sagenhaft einfallsreicher Plan! Und doch hatte ich Glück: Durch die Beine von Pfaff überquerte der Ball die Linie, ein Glückstreffer, aber mehr hatte ich ja gar nicht gewollt.
Wolfgang Grobe für die Bayern – Tor. Hans-Günther Bruns – Tor. Klaus Augenthaler – Uli Sude hält! Inzwischen hatte ich einen neuen Beobachtungsplatz eingenommen: Zusammengekauert hockte ich in einem Wäschebottich, hinter mir unser Masseur Charly Stock, der mich schon einmal vorsorglich eng umklammert hatte.
Wilfried Hannes – 5:4 für uns! Karl-Heinz Rummenigge – 5:5. Hans-Jörg Criens – 6:5. Wolfgang Dremmler – 6:6. Michael Frontzeck – 7:6. Bernd Martin – 7:7. Norbert Ringels – Pfosten! Was für ein Drama. Jetzt sollte eigentlich Dieter Hoeneß schießen, doch eine kurze Ansage von Karl-Heinz Rummenigge änderte den Plan von Udo Lattek: Kalle schickte kurzerhand seinen jüngeren Bruder Michael nach vorne, der den Ball ganz lässig links an Uli Sude vorbei ins Netz legte.
8:7 für die Bayern, wir waren geschlagen, die Münchner DFB-Pokalsieger 1984. Kurz ging ich zu Lothar und legte meinem Kumpel den Arm um die Schulter, dann zog es mich wieder in meine hellblaue Wanne. 20 Minuten muss ich dort gesessen haben, wie ein Kind, das auf das Badewasser wartet. Ich sah meinen Gegenspieler Rummenigge den Pokal in die Höhe stemmen, ich sah die Bayern jubeln und meine Kollegen heulen. Ein beschissenes Gefühl. Nach einer halben Ewigkeit schlurften wir schließlich in die Kabine. Es war mucksmäuschenstill. Niemand sagte ein Wort. Was brauchte es auch schon Worte, wo wir soeben nicht nur die Meisterschaft, sondern auch den Pokal im letzten Moment aus den Händen gegeben hatten?
Mit dem Bus fuhren wir zurück nach Mönchengladbach. Im Restaurant »Zur Traube«, in Korschenbroich, war eigentlich alles für die große Party vorbereitet worden. Jetzt herrschte hier eine Stimmung wie nach einer Beerdigung. Damit nicht genug: Zu später Stunde entluden sich die aufgestauten Emotionen der vorangegangenen Wochen. Irgendein Gladbacher Vorstandsmitglied wagte es, Lothar Matthäus vorzuwerfen, er habe den Elfmeter extra verschossen, um sich bei seinem neuen Verein anzubiedern. Ich muss an dieser Stelle nicht erklären, welche Auswirkungen solche Äußerungen auf ein reizbares Gemüt wie das von Lothar haben können. Plötzlich war die Stimmung vergiftet, beinahe hätten beide Parteien den Streit mit Fäusten ausgetragen. Immerhin das konnten wir verhindern.
Nur wenige Tage später war die Bundesliga, der DFB-Pokal, Karl-Heinz Rummenigge, der ganze Stress der Saison 1983/84 weit, weit weg. Am Strand von Gran Canaria genossen Lothar und ich die Sonne. Gemeinsam mit unseren Frauen hatten wir die Reise schon vor Wochen gebucht. Wir sprachen nicht mehr über den Elfmeter, auch nicht über den Wechsel zum FC Bayern. Ich wagte es nicht, meinen Freund darauf anzusprechen, dafür war er noch zu sehr mitgenommen. Also starrten wir lieber aufs Meer. Ich dachte an die Borussia und er vielleicht an die Bayern. Nach der Reise trennten sich unsere Wege. Und ich bin nie wieder mit Lothar Matthäus in den Urlaub gefahren.
Tagesbericht, Fachklinik Fredeburg
20. März 2000
In der Team-Runde habe ich
Weitere Kostenlose Bücher