Uli Borowka - Volle Pulle: Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker (German Edition)
teilte ich Carmen meine Entscheidung mit. Wie ihre Reaktion ausfiel, kann sich jeder Leser vorstellen. Einer hochschwangeren Frau ist es schließlich herzlich egal, ob der Verein des eigenen Mannes ein schweres Auswärtsspiel zu bestreiten hat. Ich schaltete auf Durchzug und setzte mich am Freitag, den 7. September, schlechten Gewissens mit meiner Mannschaft ins Flugzeug, das uns nach Frankfurt bringen sollte.
Diese Entscheidung werden viele Menschen nicht verstehen können. Die meisten Fußballprofis aber ganz sicher. Als Fußballspieler bist du nicht nur mit deiner Frau verheiratet, sondern in gewisser Art und Weise auch mit deinem Verein. Fußballspieler sind mehr als reine Arbeitnehmer, wer sich mit seinem Verein identifiziert – und das setze ich bei jedem anständigen Profi voraus – der ist von einer ehelichen Verbindung tatsächlich nicht so weit entfernt, wie man vielleicht denken würde. Doch ich war und bin kein Bigamist, ich konnte (und kann) mich auch nicht zweiteilen. Ich musste eine Entscheidung treffen, und im Gegensatz zur verpassten Teilnahme an den Olympischen Spielen 1988 entschied ich mich diesmal für den Fußball. Wenn mir Rehhagel gesagt hätte: »Uli, ich kann dich verstehen, bleib zu Hause bei deiner Familie«, dann hätte ich nichts lieber als genau das getan. Doch er hatte mich in die Pflicht genommen, und die wollte ich nun erfüllen. Vielleicht, so hoffte ich, würde sich mein Sohn ja etwas Zeit lassen und erst am Sonntag zur Welt kommen. Dann wäre die ganze Aufregung umsonst gewesen.
Am Samstag um 5 Uhr morgens klingelte das Telefon in meinem Wiesbadener Hotelzimmer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich die Hebamme meiner Frau: »Herr Borowka, ihre Frau ist bereits eingeliefert worden, es geht los.« Und nun? Was sollte ich tun? Selbst wenn ich direkt nach dem Anruf in ein Taxi gesprungen und sofort nach Bremen gefahren wäre, hätte ich mindestens fünf Stunden für den Rückweg benötigt. Ein Flieger war zu diesem Zeitpunkt auch nicht auf die Schnelle zu bekommen. Keine Chance, ich saß in Frankfurt fest, während gut 450 Kilometer entfernt meine Frau kurz davor war, unser zweites Kind zur Welt zu bringen! Ich stand auf, zog mich an, setzte mich in die Hotellobby und ließ mir einen Kaffee bringen. Noch mehrmals rief die Hebamme an: »Ihre Frau will unbedingt, dass sie kommen!« Natürlich wollte sie das, aber ich konnte ja nicht zaubern! Zweieinhalb Stunden lang saß ich vor meinem Kaffee und dachte daran, dass ich jetzt eigentlich am Bett meiner Frau sitzen sollte und nicht in einem Hotel in Wiesbaden. Dann klingelte schon wieder das Telefon. Die Hebamme. »Herzlichen Glückwunsch, Herr Borowka. Ihr Sohn ist wohlauf!« Ich bekam eine Gänsehaut und fühlte mich trotzdem schlecht. Nach und nach trudelten meine Mitspieler ein, sie schlugen mir fast die Schultern wund, als sie die Neuigkeit erfuhren. Ich war ein zweites Mal Vater geworden!
Otto Rehhagel reagierte auf die Geburt meines Sohnes auf die ihm gemäße Art als Trainer. Als er Stunden später bei der Mannschaftsbesprechung die Aufstellung an die Tafel kritzelte, fehlte mein Name in der ersten Elf. Wollte mich der Trainer auf den Arm nehmen? Nein, das war sein voller Ernst. Fragend schaute ich ihn an. Seine Antwort: »Uli, ich habe mir meine Gedanken gemacht. Sie sind noch viel zu aufgeregt wegen ihres Sohnes, deshalb sitzen Sie auf der Bank.« Meine Bitte, in Bremen bei meiner Frau zu bleiben, hatte mir Rehhagel verwehrt. Und jetzt ließ er mich einfach draußen. Kurz flackerte die aufkommende Wut in meinem Bauch, dann nahm ich es mit Galgenhumor. Wahrscheinlich hatte der Trainer – wie so häufig – sogar recht. Ein Fußballer, der mit seinen Gedanken nicht zu 100 Prozent auf dem Platz ist, kann seine volle Leistung nicht abrufen. Immerhin: Nach 83 Minuten wurde ich für Thomas Wolter eingesetzt, am müden 0:0 konnte ich allerdings auch nichts mehr ändern. Für dieses Ergebnis hatte ich also meine Frau alleine gelassen.
Spät in der Nacht, als wir Bremen wieder erreicht hatten, eilte ich mit einem gigantischen Blumenstrauß im Arm ins Krankenhaus zu meiner Frau. Ein hilfloser Versuch zu retten, was nicht mehr zu retten war. Noch Jahre später machte mir Carmen Vorwürfe, weil ich sie im Stich gelassen hatte, und trieb mich damit zur Weißglut. Ich machte mir selber schwere Vorwürfe. Ausgerechnet die Geburt meines Sohnes Tomek trieb einen Keil in unsere Beziehung, dessen Folgen wir schon bald zu spüren
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