Ulysses Moore – Die Häfen des Schreckens
Wasser und Schlamm verankert waren.
Leonardo Minaxo ging voraus und durchtrennte mit seiner Machete die Ranken der Schlingpflanzen, die ihr Vorwärtskommen erschwerten und die Luft mit dem süßlichen Duft ihrer Blüten erfüllten. In der anderen Hand hielt er einen langen Stock, mit dem er den Boden vor sich erkundete.
Kalypso folgte ihm mit vier Schritten Abstand. Die beiden waren wie Bergsteiger durch ein Seil verbunden, das verhindern sollte, dass einer von ihnen hilflos im Treibsand versank. Wenn Leonards Füße zu tief im Schlamm einsanken, blieb sie stehen und stemmte sich gegen einen Baumstamm, bis ihr Mann wieder freikam und mit dem Stock nach festerem Untergrund tasten konnte.
Jedes Mal, wenn sie die Richtung änderten, markierte Kalypso mit einer roten Sprühdose die Bäume. Und je tiefer sie in das Sumpfgebiet vordrangen, desto mehr erinnerten diese roten Zeichen sie an offene Wunden. Als sie das Leonard sagte, schnaubte dieser nur verächtlich und schlug mit seiner Machete fester zu.
»Okay, machen wir mal eine Pause«, sagte er schließlich und ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten. Winzige weiße Insekten flohen rasch vor ihnen in dunkle Löcher unter den Wurzeln.
Sie waren auf eine Anhöhe gelangt, auf der sie sich nun ausruhten. Winzige Krebse kamen aus ihren Verstecken hervor, um sie neugierig zu beäugen.
Leonard reichte Kalypso die Wasserflasche und etwas Proviant. Sie nahm beides an und blieb mit geradem Rücken sitzen, ohne sich irgendwo anzulehnen, denn sie hatte die unterschiedlichsten kleinen Tiere herumkriechen und herumkrabbeln sehen und keine Lust darauf, sie an ihrem Körper wiederzufinden.
»Wie weit willst du noch gehen?«, fragte sie Leonard und gab ihm die Wasserflasche zurück.
Er schaute nach oben, um sich zu orientieren. Aber die Kronen der Mangroven über ihnen waren so dicht, dass er den Himmel kaum sehen konnte. Von hier aus wirkte er wie ein schwammiges Gewebe, das von den Ästen und Zweigen zusammengehalten wurde.
»Immer wieder denke ich, wir müssten bald da sein«, meinte er kopfschüttelnd. »Und dann sieht doch alles wieder gleich aus und wir sind immer noch mitten in diesem verdammten Wald.«
»Wir sollten uns ein Zeitlimit setzen«, schlug Kalypso vor.
»Eine Stunde«, erwiderte Leonard. »Wenn wir bis dahin nicht an unserem Ziel sind, kehren wir um.«
Kalypso nickte düster. Eine Stunde Weg bedeutete, dass sie für die Rückkehr zum Rand des Mangrovensumpfs zwei und bis zum Boot weitere drei Stunden brauchen würden. Sie hatten es in einer kleinen, engen Bucht auf den Strand gezogen. Dort, wo sie zum ersten Mal die Trommeln gehört hatten.
Es waren die Trommeln gewesen, die Leonard in den Wald gelockt hatten. Die Trommeln und der Umstand, dass sich Kapitän Spencers Brigantine in Luft aufgelöst zu haben schien.
Leonard hatte allein gehen wollen, doch Kalypso hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. »Zusammen oder gar nicht«, hatte sie gesagt. Es waren dieselben Worte, die sie ihm in der Nacht ihrer Hochzeit auf dem Weg zum Leuchtturm zugeflüstert hatte.
In den Jahren, die seither vergangen waren, hatte Leonard ihr erzählt, wer er wirklich war und was er auf seinen Reisen getan und gesehen hatte. Er hatte ihr auch verraten, wer an dem Verlust seines Auges schuld war, nämlich der Kapitän der verschwundenen Brigantine. Es kam ihr damals vor, als hätte er ihr die Steine eines Mosaiks gezeigt, aus denen sie im Kopf allmählich ein Bild zusammensetzen konnte. Allerdings hatte sie einige seiner Geheimnisse bereits gekannt.
Lange vor ihrer Hochzeit hatte Kalypso sich etwas geschworen. Und dieser Schwur hütete ein Geheimnis, das sie so lange wie möglich bewahren wollte.
Sie hätte Leonard niemals angelogen, aber solange er sie nicht direkt danach fragte, wollte sie ihm ihre Geheimnisse eigentlich nicht preisgeben.
Jetzt aber, in diesem Sumpf außerhalb der Welt und der Zeit, fragte sich Kalypso, ob es weiter Sinn machte, ihm das wenige, das sie wusste, zu verschweigen. Könnte ihr Geheimnis ihm bei seinen Nachforschungen helfen? Oder würde ihn das Wissen darüber nur noch mehr verwirren?
Sie wusste es nicht. Und an diesem Tag sollte sie ohnehin nicht mehr viel Zeit haben, darüber nachzudenken.
Wieder erklangen die Trommeln und das Echo ihrer Rhythmen breitete sich im Wald aus. Sie schienen tatsächlich sehr nah zu sein, näher, als sie jemals zuvor gewesen waren. Außer den Trommelschlägen waren nun auch wieder die Schreie zu hören.
»Gehen
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