Ulysses Moore – Die Häfen des Schreckens
bin!«
»Aber wie lange brauchst du denn noch?«
Stille.
»Verdammt, Peter, hörst du mich noch?«
Aus dem Radio kam nur noch ein leises Summen.
Die Verbindung war abgebrochen. Peters Stimme hatte sich in den Windungen von Zeit und Raum verloren, die sich tief unter Kilmore Cove erstreckten.
Zeit gewinnen, hatte Peter gesagt. Spencer ablenken.
Ja, gut, aber wie?
Mit gerunzelter Stirn lief Black im Raum auf und ab.
»Okay«, sagte er schließlich zu sich selbst. »Immer eins nach dem anderen.«
Er ging zu dem Schaltpult des Leuchtturms, suchte und fand die Schalter für die Scheinwerfer und stellte sie alle auf höchste Leuchtkraft. Der Notgenerator unten im Keller sprang dröhnend an. Black glaubte fast, den elektrischen Strom durch die Kabel kriechen zu sehen.
Der mächtige Lichtstrahl des Leuchtturms zerschnitt die Dunkelheit wie ein Schwert.
Black lief die Treppe hinunter.
»Jetzt weißt du, wo ich bin, Spencer«, knurrte er. »Aber ich werde dir nicht die Freude machen, mich hier brav abholen zu lassen.«
Er war unten angekommen. Die Stute Ariadne wieherte aufgeregt in ihrem Stall. Ohne sie zu beachten, ging Black in Leonards Haus, zu dem er den Schlüssel hatte. Er suchte nach einer alten Sitztruhe. Als er den Deckel öffnete, schlug ihm der scharfe Geruch von Mottenkugeln entgegen.
»So verrückt er auch ist, ordentlich ist er jedenfalls …«, murmelte er.
Aus den Tiefen der Truhe holte Black eine kunstvoll geschnitzte Holzschachtel heraus. In ein goldenes Schildchen war der Name ihres vorherigen Besitzers eingraviert: Francisco Vásquez de Coronado.
In roten Samt eingeschlagen, lagen in der Schachtel zwei altertümliche Pistolen mit langen Läufen und Elfenbeingriffen. Zwei Schätze spanischer Handwerkskunst, erworben in einem Land, das es nicht mehr gab.
»So … und jetzt noch eine Schutzweste«, sagte Black und schaute sich suchend um.
Kapitel 16
Die Gefangene des Kapitäns
Das Erste, was Julia sah, war das Deck des Schiffs. Dunkle Holzbretter, die vor ihren Augen hin und her wogten, umgeben von einem feinen leuchtenden Nebel. Sie begriff nicht, was sie da sah, und starrte weiter vor sich hin, bis sich der Nebel auflöste. Dann erst wurde ihr bewusst, dass sie sich benommen fühlte und dass ihr Kopf von dem Schlag schmerzte, mit dem sie betäubt worden war. Kurz darauf hörte sie Schritte und sah, wie ein schwarzes Stiefelpaar immer näher kam und schließlich vor ihr stehen blieb.
Eine Männerstimme befahl: »Weckt sie auf!«
Zwei Affen packten sie an den Schultern und schüttelten sie. Doch Julia genügte schon der unangenehme Geruch, den sie verströmten, um endlich ganz aufzuwachen.
»Hände runter!«, schrie sie.
Sie setzte sich auf. Die beiden Affen brüllten sie aggressiv an.
»Bist du das Zwillingsmädchen aus der Villa Argo?«, fragte die Stimme von vorhin.
Julia schluckte und sah langsam auf. Vor ihr stand ein großer, sehr großer Mann. Von unten betrachtet wirkte er beinahe wie eine Statue. Seine Stiefel glänzten und seine altmodische Kleidung war gepflegt und makellos. Julia wunderte sich ein bisschen darüber, dass er schwach nach Parfüm roch. Einen größeren Gegensatz zu den ringsum herumturnenden Affen hätte man sich gar nicht vorstellen können.
Julia versuchte, Zeit zu gewinnen. »Und du bist Kapitän Spencer, stimmt’s?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Woher kannte dieser Mann sie überhaupt?
Der Pirat kniete sich vor sie hin. Aus der Nähe wirkte sein Gesicht wie aus Holz geschnitzt: hohe Wangenknochen, tiefe Augenhöhlen, ein fein geschnittener Mund und eine Nase, die so gerade wie eine Kompassnadel war.
»Ja, der bin ich«, beantwortete er ihre Frage und stieß zischend zwischen den zusammengebissenen Zähnen Luft aus.
Julia wäre gerne zurückgewichen, um mehr Abstand zwischen sich und ihn zu bringen, aber hinter ihr war kein Platz mehr. Plötzlich ergriff sie Panik. Sie sah ein, dass sie diesen Mann nicht austricksen konnte. Dann schrie sie auf, weil vor ihren Augen ein Degen aufblitzte. Kapitän Spencer hatte ihn blitzschnell aus der Scheide gezogen und mit der Spitze Julias Schnürsenkel am Deck festgenagelt.
»So. Dürfte ich jetzt bitte erfahren, ob mir meine Jungs die richtige Person gebracht haben oder ob ich dich ins Meer werfen lassen soll?«
»Nein … ja … ich bin Julia … Covenant«, stotterte sie.
»Sehr gut«, sagte Spencer. Er stand auf, zog den Degen wieder aus dem Holz und den Schnürsenkeln und bedeutete ihr aufzustehen.
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