Ulysses Moore – Die Häfen des Schreckens
»Ursus! Schau mich an! Ich bin es, Leonard! Du kennst mich doch seit zwanzig Jahren. Erinnerst du dich?«
Marriet nickte zögernd.
»Versuch bitte mal, mir zu erzählen, was passiert ist. Fang ganz am Anfang an. Mit der Nacht, in der du und Oblivia …«
Als er diesen Namen hörte, stieß Marriet einen verzweifelten Schrei aus. »Sie war’s! Es war ihre Schuld!«
»Pscht … Erzähl mir alles. In Ruhe und von Anfang an. Wir hören dir zu. Komm, Marriet, fang schon an.«
Ursus Marriet legte los und es wurde eine lange, wirre Erzählung. Ständig verbesserte und verwickelte er sich in Widersprüche. Oblivia und er waren im offenen Meer von einer Herde von Buckelwalen angegriffen worden. Die Tiere schienen darauf aus gewesen zu sein, sie zu töten. Einer der Wale hatte sein Motorboot zertrümmert, und möglicherweise war das derselbe Wal, der wenig später am Strand nördlich von Kilmore Cove verendet war. Ein zweiter, ein einäugiges Ungetüm, dem unzählige abgebrochene Harpunen aus dem Rücken ragten, hatte sie beide verschlungen. Doch sie waren dabei nicht ums Leben gekommen. Sie hatten in dem riesigen, hallenden Bauch überlebt, indem sie das Wasser getrunken hatten, das durch die Barten gesickert war. Ständig waren sie mit dem Treibholz, den Algen und Fischen überschüttet worden, die der Wal verschlang. Eines Tages strandete das Tier auf dem großen Walfriedhof, der zu den Dunklen Häfen zählte. Die Angehörigen eines Fischervolkes, das von der Verwertung der Kadaver der riesigen Meeressäuger lebte, hatte sie aus dem Bauch befreit. Eine Weile hatten Oblivia und Ursus bei ihnen gewohnt, in einer trostlosen, öden Landschaft, in der es ständig nach verfaultem Fleisch stank. Sie hatten für die Fischer gearbeitet und ihnen abends an den Lagerfeuern von ihrem früheren Leben in Kilmore Cove erzählt, so als wären ihre Erlebnisse dort Geschichten aus einer Märchenwelt. Eines Tages waren zwei Fremde aufgetaucht: Kapitän Spencer und JohnDoo. Sie waren allein und hatten kein Schiff, dafür aber einen Plan.
»Die Fischer hatten uns abgeraten, mit ihnen zu gehen«, jammerte Ursus Marriet. »Sie hatten uns gewarnt! Aber wir haben nicht auf sie gehört und sind mitgegangen.«
»Wohin? Wohin seid ihr gegangen?«
»In den Urwald. Wir haben dort einen Affenstamm gesucht«, erklärte Ursus Marriet. »JohnDoo wusste, wo er hinwollte, und sprach ihre Sprache. Er hatte sie viele Jahre zuvor auf der Jadeinsel gelernt. Damals, als er den König der Affen überredet hatte, an Bord von Kapitän Spencers Schiff zu gehen.«
»Aber was bedeutet das alles, Ursus? Wer ist dieser König der Affen?«
»Ein heiliges Wesen. Ein Unsterblicher, dessen einziger Wunsch es ist, zu reisen und die Welt zu sehen! Ein Gauner! Ein Wesen, das gleichzeitig gut und böse ist. König der Affen, Äffchen oder Sun Wukong sind einige der Namen, unter denen er bekannt ist. Eines Tages ging er an Bord von Kapitän Spencers Schiff und seither ist er nicht mehr zurückgekehrt.«
»Warte mal, langsam«, unterbrach ihn Leonard. »Willst du damit sagen, dass ihr mit denselben Affen gesprochen habt, die schon einmal ihren König verloren hatten?«
»Nein! Die Jadeinsel ist keiner der Dunklen Häfen. Wenigstens glaube ich das. Wir waren bei einem anderen Stamm, Leonard. Und als wir dort waren, hat JohnDoo, der ihre Sprache spricht, erklärt, er wisse, wo sich der König der Affen befinde.«
»Stimmte das denn auch?«
»Ja. Er sagte, er sei nicht tot, sondern nur in einem Hafen von Bord gegangen. Das war im Jahr 1948. Der Affenkönig hatte beschlossen, die Welt nun auf eigene Faust zu erkunden. Und nachdem er das Schiff verlassen hatte, kehrte er nicht mehr zurück.«
»Sagte er auch, in welchem Hafen er damals von Bord ging?«
»Ja, gerade ist es mir wieder eingefallen. In Venedig«, flüsterte Ursus Marriet.
Leonard nickte. Und wenn er Morice Moreaus Geschichte gekannt hätte, wenn er gewusst hätte, dass der Maler in genau diesem Jahr gestorben war und mit einem Affen zusammengelebt hatte, dessen Porträt er auf die Wand des Treppenhauses seiner Ca’ degli Sgorbi gemalt hatte, dann hätte er Ursus Marriet jetzt sicher eine andere Frage gestellt. Stattdessen fragte er ihn nur: »Und was passierte dann?«
»Es kam, wie es kommen musste: Die Affen nahmen das Angebot an. Der Stamm gab JohnDoo und Kapitän Spencer seine kräftigsten Männchen mit und zusammen machten sie die Mary Grey wieder flott. Als Gegenleistung für die Rückfahrt übergab
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