Um Leben Und Tod
den Zeugen Angst.
Sie wollten sich offensichtlich nicht dem Risiko aussetzen, in dieses Verfahren als Mitbeschuldigte einbezogen zu werden oder gar eine disziplinarrechtliche Verfolgung gewärtigen zu müssen.
Die wichtigste Frage für das Ermittlungsverfahren â welche zeitliche Lebenserwartung Jakob von Metzler am Morgen des 1. Oktober 2002 maximal noch hatte â wurde keinem der Zeugen gestellt â und der Zeuge, der sie mit wissenschaftlicher Begründung hätte beantworten können, wurde überhaupt nicht gefragt: Prof. Dr. Lutz, der Gerichtsmediziner, der in einer Fernsehdokumentation ganz klar sagte: »Aus medizinischer Sicht ist Daschners Ãberlegung durchaus nachvollziehbar. Es war eigentlich die Grenze schon erreicht, das heiÃt, die Ãberlebenschancen wären in der Praxis nur noch sehr sehr gering gewesen. Er hatte nicht mehr viel Zeit.«
Nach § 160 Abs. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, nicht nur die der Belastung, sondern auch die der Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln. Die Wahrnehmung dieser Pflicht ist in den Vernehmungen der Staatsanwälte für mich nicht erkennbar.
Sie sind mit keiner Frage auf den ungeheuren Zeitdruck am Morgen des 1. Oktober 2002 eingegangen: Wie lange kann ein Mensch ohne Flüssigkeit überleben, wann stirbt er durch Unterkühlung, welche Bedeutung hatte das Kinderschlaflager mit Blutanhaftungen für die Beurteilung der Gefährdungslage? Und vor allem fehlte die Frage: Welche realistischen Möglichkeiten zur Rettung des Kindes haben die Polizeiführer Edwin F. und Werner T. unter Berücksichtigung dieser Umstände noch gesehen?
Mir scheint es offensichtlich zu sein, dass diese Problematik nicht angesprochen werden sollte, weil durch eine objektive Prüfung das Kartenhaus der Ankläger in sich zusammengefallen, der »Verbrechensluftballon« geplatzt wäre.
Alle Polizisten sagten jedoch aus, dass sie überzeugt waren, dass Jakob noch lebte und es in der Androhung von unmittelbarem Zwang nur um die Lebensrettung des Kindes gegangen sei, nie um Beweisermittlung. Denn die Täterschaft Gäfgens war eindeutig belegt. Abteilungsdirektor Wolfram Ritter bestätigte als Einziger, die Entscheidung Daschners mitgetragen zu haben.
Einvernehmen bestand bei allen befragten Polizisten, die mit Gäfgen nach seiner Befragung zu tun hatten, darüber dass Gäfgen keine Andeutungen in Bezug auf Ãbergriffe und Bedrohungen gemacht hatte und Angst nur um seine Freundin vorgespielt hätte, die durch die angeblichen Mittäter in Gefahr gewesen wäre.
Nach Durchsicht der Akten und des Gäfgen-Urteils wurde uns klar, dass wir vorverurteilt waren:
In dem Beschluss vom 9. April 2003 machte der Vorsitzende Richter Hans Bachl deutlich, dass Polizeivizepräsident Daschner und ich nach vorgefasster Entscheidung der Frankfurter Justiz als überführte Rechtsbrecher anzusehen wären â noch bevor die Staatsanwaltschaft den ersten polizeilichen Zeugen vernommen hatte: Die Kammer gehe »nach Aktenlage« davon aus, dass dem Angeklagten Gäfgen in den Morgenstunden des 1. Oktober 2002 von einem Polizeibeamten auf Anordnung des Vizepräsidenten angedroht worden sei, man werde ihm Schmerzen zufügen, wenn er den Aufenthaltsort von Jakob nicht preisgebe. Es sei bereits jetzt festzustellen, dass schon diese Androhung gesetzwidrig gewesen sei, die Drohung mit einer solchen unzulässigen MaÃnahme sei verboten. Und in dem Urteil gegen den Kindsmörder Gäfgen vom 28. Juli 2003 verkündete Bachl der Einfachheit halber auch gleich den Schuldspruch gegen uns: Gegen den Angeklagten Gäfgen seien nach seiner Festnahme verbotene Vernehmungsmethoden im Sinne von § 136a der Strafprozessordnung angewandt worden, »indem ihm die Zufügung von Schmerzen angedroht wurde«. Allein die dadurch ausgelöste Diskussion über die Zulässigkeit von »FoltermaÃnahmen« habe »der Rechtsstaatlichkeit dieses Landes Schaden zugefügt«.
Die Frankfurter Justiz hatte uns also schon verurteilt, lange bevor wir â nach mehreren erfolglosen Anträgen unserer Verteidiger â am 18. September 2003 erstmals Akteneinsicht erhalten hatten und mehr als sieben Monate vor Abschluss der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft. Die »Aktenlage«, auf die sich Bachl berufen hatte, bestand aus der einseitigen â und selbst für die 22. Strafkammer insgesamt
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