Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz
sind, verletzen sie sich gegenseitig mit ihren Stacheln. Also gehen sie wieder auf Distanz. Nun empfinden sie die Kälte von Neuem. Also suchen sie wieder die Nähe der anderen. Doch wieder führt die Nähe zu Verletzungen, und das Spiel beginnt von vorn. Es endet erst, wenn die Stachelschweine den
richtigen Abstand voneinander gefunden haben, nah genug, um sich zu wärmen, und entfernt genug, um sich nicht gegenseitig zu verletzen.
Ich nehme an, dass Schopenhauer damit die Bedeutung von Spielregeln und Ritualen in der Gesellschaft vor Augen führen wollte. Für mich liegt in dieser Fabel allerdings ein Problem. Denn ist die ideale Distanz einmal gefunden, ergibt sich dann nicht Stillstand? Stillstand jedoch ist unnatürlich und kann deshalb kein Ziel sein. Sozial gesehen mag er vielleicht wünschenswert sein, aber er bedeutet nun einmal Stagnation. In sich ist die Fabel stimmig. Was ich betonen will, ist nur die Unterschiedlichkeit der individuellen Bedürfnisse nach Nähe und Ferne, nach Freiheit und Geborgenheit.
Von den Pinguinen weiß man, dass sie sich bei sehr starker Kälte zu einem lebendigen Knäuel zusammenballen. Natürlich haben diejenigen von ihnen es wärmer, die mitten in diesem Knäuel stecken. Aber es findet ein permanenter Wechsel unter ihnen statt. Aus der warmen Mitte schieben sich die Tiere wieder nach außen und von außen drängen andere zur Mitte. So ergibt sich eine Art Perpetuum mobile, das, wenn man so will, zu einem sozialen Ausgleich führt. Hier wird ein Beispiel lebendigen Wechsels zwischen Nähe und Distanz demonstriert, das mir viel natürlicher zu sein scheint als das statische System der Schopenhauer’schen Stachelschweine.
Soziale Spielregeln münden in der Regel in hierarchischen Strukturen. Es entstehen asymmetrische Beziehungen zwischen den Menschen. Denn einige sind den anderen übergeordnet und den anderen bleibt deshalb nur die Unterordnung. »Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht«, singt Bertolt Brecht. Es beginnt regelmäßig damit, dass Erwachsene sich Kindern gegenüber Dinge herausnehmen, die den Kindern versagt bleiben. Der Erwachsene wird ein Kind zum Beispiel, ohne um Erlaubnis zu fragen, berühren, streicheln oder in die Wange zwicken, und dazu nehmen sich auch Fremde das Recht. Kinder dagegen werden kaum auf den Gedanken kommen, einen fremden Erwachsenen ungefragt zu streicheln oder ihn in die Wange zu zwicken. Und wie würde ein Erwachsener darauf reagieren?
Bestimmt die Hierarchie über Nähe und Distanz?
Auch diese gesellschaftliche Asymmetrie schafft Nähe und Distanz. Nur entstehen Nähe und Distanz nicht nach dem Willen beider Partner, sondern werden vom hierarchisch Höherstehenden bestimmt. Der ranghöhere Partner wird dem Untergebenen ohne Weiteres nähertreten, sich jedoch sehr wundern, wenn der es ihm gegenüber wagte. Also wird im Allgemeinen der untergeordnete Mitarbeiter in einer Firmenhierarchie die erzwungene Nähe dulden, und er wird die Signale seines Unbehagens und der Abwehr verstecken, um nicht in Ungnade zu fallen. Damit aber schafft er sich selbst eine Blockade, die irgendwann zu Stress führt. Blockaden äußern sich sofort darin, dass sich die Muskulatur zusammenzieht, die Gelenke steif werden, sich also eine Lähmung der Bewegungsfreiheit ausbreitet. Die damit aufgestaute Spannung lenkt die Konzentration ausschließlich auf das unangenehme Gefühl, das die erzwungene Nähe erzeugt, auf das Verlangen nach Distanz, sodass man kaum noch in der Lage ist, die Information aufzunehmen, die nützlich und wichtig für den Betreffenden hätte sein können.
Altersunterschied ist keine Rechtfertigung oder Erlaubnis zu physischem Kontakt, auch nicht bei väterlichen Absichten.
Sie zieht die Schultern hoch und ihr Körper neigt sich weg. Die Augen bleiben auf den PC gerichtet, um jede Konfrontation zu vermeiden. Ihre Einstellung ist dennoch ganz klar.
Von beiden wird der Körper auf Distanz gehalten. Die unerwünschte Hilfestellung, einen Fussel zu entfernen, wird trotz höflichem Lächeln als ein nicht angebrachtes Verhalten angesehen. Sie schaut kritisch und missbilligend auf seine Hand.
Väterlich, doch dominant. Auch als Trost wird der Griff an den Arm von der Dame nicht akzeptiert. Sie bricht den Augenkontakt ab.
Barrieren haben die Eigenschaft neue Barrieren hervorzurufen: Nun haben beide ihre Barrieren errichtet.
Durch ihr übergeschlagenes linkes Bein ist sie von ihm abgewandt, in ihr Buch versenkt
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