Umarme mich, aber rühr mich nicht an - Die Körpersprache der Beziehungen. Von Nähe und Distanz
mehrere neue Individuen eingefügt werden müssen. Alle zusammen sollen ja nun harmonisch koordiniert sein, damit sich das System Familie erhält. Würde sich jedes kleine Ich nach Belieben nur der eigenen Entfaltung widmen können, wäre das System zum Scheitern verurteilt. Wie lassen sich nun die Prioritäten der einzelnen Individualität innerhalb des gemeinsamen Systems koordinieren? Denn selbstverständlich entwickeln sich in einem engen System wie dem der Familie starke Bedürfnisse nach Distanz. Der Familienverband spendet erwünschte Nähe, der Zusammenhalt von Eltern und Kindern gibt ein durch andere Systeme kaum zu leistendes Sicherheitsgefühl. Zugleich beansprucht die Entfaltung der Persönlichkeit zu Recht einen hohen Stellenwert in der Kindererziehung. Dazu wiederum bedarf es der Distanz. Deshalb muss ein Rückzug erlaubt sein, mehr noch, er muss gefördert werden. Wie Nähe und Entfernung richtig gewichtet werden, lässt sich nie abschließend sagen, denn jedes Individuum hat unterschiedliche Bedürfnisse.
Individualität oder Selbstaufgabe?
Zwei Menschen, die ein Paar werden wollen, sind meistens bereit, spezielle Bedürfnisse, die sie als einzelnes Ich für höchst wichtig angesehen haben, zugunsten des größeren Systems »Paar« aufzugeben. Man schmiedet gemeinsame Pläne und wirft einst lieb gewonnene Gewohnheiten über Bord: eine Voraussetzung für die neue Nähe.
Neue Spielräume werden errichtet, ein neues Ambiente, äußerlich etwa in der Gestaltung einer gemeinsamen Wohnung. Das gemeinschaftliche Suchen und Finden, der Prozess der Entscheidung und die Freude darauf binden die beiden Partner aneinander. Auch die Erfahrung, dass sie sich beide auf den Geschmack des anderen verlassen und ihm deshalb freie Hand lassen können, stärkt das gegenseitige Vertrauen. Nicht ganz aus dem Blick lassen sollte man die Tatsache bei der Wohnungseinrichtung, dass dahinter eine territoriale Markierung steckt. Gerade deshalb ist es gut, wenn beide daran teilhaben, zumindest bei den Bereichen, die später jeder von ihnen für sich ganz persönlich in Anspruch nehmen möchte. Dies gilt für die äußerlichen Gesichtspunkte. Innerlich gilt es, bereit zu sein, bestimmte Verhaltensweisen aufeinander abzustimmen, um das gemeinsame Leben und den Lebensrhythmus zu synchronisieren. Die Kraft der Liebe dürfte dabei sehr hilfreich sein. Beide müssen empfinden, dass sie gemeinsam stärker sein werden, als es dem Einzelnen allein möglich wäre.
Dennoch wird der Wunsch, zu sich selbst zurückzufinden, unvermeidlich kommen. Ich sage vielleicht: »Ich liebe sie/ihn. Ich verliere mich selbst in dieser Liebe! Ich gehe in ein wunderbares Wir ein.« Das Eintauchen in dieses gemeinsame »Wir« erfüllt uns mit einer bis dahin nie gekannten Kraft. Die gegenseitigen Gefühle nähren einander zu einer Flamme, in der die Energie für die gemeinsame Zukunft auflodert. Irgendwann wird sich aber die Frage stellen: »Wer liebt da eigentlich?« Der andere könnte fragen: »Wer liebt mich da eigentlich?« Wenn ich also meine eigene Kontur ganz verliere, mein Eigenleben und meine Person ganz aufgebe, weiß ich, wissen wir in diesem Austausch wirklich nicht mehr, wer es ist, der da liebt und wer da geliebt wird. Wir brauchen in diesem Moment die Freiheit, uns voneinander zurückzuziehen, um wieder zu uns selbst zu finden, zu unserer inneren Organisation, unserem jeweils eigenen Ich. Steht jedem
von uns dafür ein Zeitraum und vielleicht auch der physische Raum zur Verfügung, sich selbst weiter zu entwickeln und nicht zu stagnieren, kann ein sehr fruchtbares Wechselspiel zwischen dem einzelnen Ich und dem größeren Ich - zugunsten dieses größeren - beginnen.
Problematisch kann diese Konstruktion werden, wenn der eine den Wunsch, sich in sich selbst zurückzuziehen, zu einem Zeitpunkt verspürt, in dem der andere dringend die Nähe des Partners benötigt. Je stärker der Wunsch des einen geworden ist, mit sich allein zu sein, sich wieder auf sich selbst zu beziehen, umso tief greifender wird der Konflikt sein. Der Partner dramatisiert den Konflikt, redet sich ein, nicht mehr geliebt zu sein, seinerseits Fehler gemacht zu haben. So werden Schuldgefühle geweckt, Idealbilder perfekten Zusammenlebens, die uns die Gesellschaft vermittelt, werden großflächig in uns projiziert und führen womöglich tief hinein in einen Minderwertigkeitskomplex, der aber ohne Weiteres umschlagen kann in Schuldzuweisungen an den Partner. Der Konflikt wird
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