umgenietet: Maggie Abendroth und der alten Narren tödliches Geschwätz (German Edition)
können.
Ich setzte mich an den Tisch, steckte mir eine Zigarette an und schnupperte an der Mappe. Obwohl die ganze Bude muffig und nach kaltem Essen roch, duftete die Mappe nach Lavendel. Ich schlug die erste Seite auf. Borowski machte sich grummelnd unter der dreckigen Spüle zu schaffen. Er zog und zerrte an einem Elektrokabel.
»Was wird das jetzt? Ich dachte, hier gibt’s keinen Strom.«
»Hat der Herrmanns nebenan abgezapft, damit er’n bissken den Heizlüfter anmachen kann.«
Wenn ihn der Alkohol und der Unfall nicht dahinraffen, dann wird diese Bude eines schönen Tages noch durch Kabelbrand in Schutt und Asche liegen und Herrmanns als Grillhähnchen enden.
Borowski ging nach draußen, rumorte im Kabuff herum und kam ein paar Minuten später mit einem Vorkriegsmodell von Heizlüfter wieder herein. Funken sprühten, als er den Stecker in die Dose steckte. Die Heizspirale glühte knisternd auf, und sofort verbreitete sich angenehme Wärme in dem kleinen Raum. Ich guckte besorgt aus dem Fenster, in der Erwartung, dass im ganzen Ehrenfeld die Lichter ausgehen würden. Aber nichts dergleichen geschah. Borowski setzte sich auf das Schlafsofa und zündete sich ungeniert eine von Herrmanns’ Zigarren an. Ich drehte das Gaslämpchen etwas höher, schlug die erste Seite auf und las: ›Die wahre Geschichte von Freddy Winston Herrmanns‹.
Als ich zwei Stunden später mit der Lektüre fertig war, glühte mein Gesicht. In der kleinen Laube war es erstickend heiß geworden. Ich zog den Stecker des Heizlüfters aus der Dose und öffnete das Fenster einen Spalt weit. Zur Sicherheit zündete ich einen Kerzenstummel an, der auf der Fensterbank lag, denn das Gaslämpchen verlor sekündlich an Kraft. Borowski lag auf dem Schlafsofa und schnarchte, die kalte Zigarre fest zwischen seinen Lippen.
Ich zündete mir die neunte Zigarette seit Seite 1 an und wünschte mich in einen anderen Teil des Universums. Vom kalten Luftzug aufgeweckt, ächzte Borowski und setze sich mühsam aufrecht hin. Er rieb sich die Augen und steckte umständlich den Zigarrenstumpen wieder in Brand.
»Na, gut geschlafen?«
»Meine Güte, wat’ne Hitze hier drin.«
»Ich hab die Höllenmaschine schon aus gemacht.«
Borowski paffte ein paar Züge. »Und, wat sach’se? Dat is doch wohl die Sensation, oder?«
Tja, wie sag ich’s meinem Kind? Es gibt keinen Weihnachtsmann, keinen Osterhasen und kein Christkind. Und es gibt auf gar keinen Fall eine Verschwörung. Was ich gelesen hatte, war mit Sicherheit samt und sonders Herrmanns’ verstiegener Fantasie entsprungen. Eine von ihm persönlich beschriebene Ufo-Landung mit Fotos der Außerirdischen hätte nicht skurriler sein können.
»Na wat, bisse platt, oder warum sach ’se nix dazu?«
»Doch, Borowski, ich sag dir jetzt was dazu.«
Augen zu und durch, auch wenn du einen alten, verwirrten Mann ziemlich brutal auf den Boden der Tatsachen holen musst. »Borowski, hör mal zu. Das, was der Herrmanns sich hier zusammengeschrieben hat, ist einfach nicht wahr. Glaub mir. Der hat sich was zusammenfantasiert. Vermutlich, weil seine Mutter ihm eine tolle Geschichte aufgetischt hat, um ihren Jungen davor zu bewahren, sich wie der letzte Dreck zu fühlen. 1937 als uneheliches Kind geboren zu werden war bestimmt das Allerletzte, was man sich wünschen konnte. Und Herrmanns ist drauf reingefallen. Kein Wunder, diese Geschichte ist bestimmt viel schöner als die Wahrheit, egal, wie die wohl ausgesehen hat. Aber was sich damals wirklich abgespielt hat, da werden wir nicht mehr hinterkommen, fürchte ich.«
Borowski paffte desinteressiert an seiner Zigarre, als hätte er gar nicht gehört, was ich gesagt hatte.
»Hörst du mir überhaupt zu? Dein Freund Herrmanns ist auf gar keinen Fall der illegitime Sohn von Winston Churchill! Auf gar keinen Fall.«
Borowski lehnte sich zurück, und die Porzellanpreziosen im Regal klirrten leise. Ich fürchtete, dass ihm gleich einer der Royals auf den Kopf fallen würde.
»Und warum nich? Fräullein Oberschlau? Wie kommse dadrauf? Wat is denn nich logisch an die Geschichte?«
»Kann ich dir sagen: Churchill war meines Wissens nie bei den Olympischen Spielen in Berlin anno ’36. Der hätte sich lieber das linke und das rechte Ohr abgeschnitten und seinen steifen Bowler gefressen, als vor der versammelten zivilisierten Welt Hitler das Händchen zu geben. Soweit ich weiß, war Churchill erst in Deutschland, als der Krieg von den Alliierten schon so gut wie gewonnen
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