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Umwege zum Glück

Umwege zum Glück

Titel: Umwege zum Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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Frau Braun, mit Eimern, Lappen und Staubsauger. In der Küche war Mutti dabei, geheimnisvolle kulinarische Wunder zu vollbringen, und im kleinen Zimmer saßen Madeleine und ich mit unserer Babywolle und trugen zu der Garderobe unseres gemeinsamen Geschwisterchens bei.
    „Du, erzähl mir doch von deinem Freund“, bat Madeleine. „Ich habe ja gar keine Vorstellung von ihm! Ich muß doch wissen, wie der Mensch ist, der sich für meine Schwester interessiert!“
    „Ich wünschte, ich wüßte es selbst“, seufzte ich.
    „Wieso?“
    „Ach, Lenchen, ich bin so unsicher! Ich habe so darüber nachgedacht, nachdem Papa gestern fragte. Weißt du, ich ahne nicht, wofür er sich interessiert, außer für Autofahren und das Geschäft und mich! Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Ich weiß nicht, welche Interessen ich selbst habe, wenn überhaupt welche! Ja, mein Studium interessiert mich selbstverständlich und du und Mutti und Vati – und schicke Schallplatten und hübsche Kleider –, aber als Vati gestern nach Politik und Kunst und Wissenschaft und was war es noch fragte, da wurde es mir plötzlich furchtbar, beängstigend klar, daß ich Politik todlangweilig finde und von Kunst nichts verstehe, daß ich überhaupt ein durch und durch oberflächliches Wesen bin!“ Madeleine lächelte.
    „Etwas hast du jedenfalls“, sagte sie. „Du hast Selbsterkenntnis. Außerdem bist du ein anständiger Mensch und ein guter Kamerad, das steht fest.“
    „Ja, aber Madeleine, du mußt zugeben, daß bei mir ein Vakuum ist, wo andre Menschen ein Gehirn haben!“
    „Nein, das gebe ich durchaus nicht zu. Wenn das der Fall wäre, könntest du nicht studieren! Aber vielleicht kann ich dir sagen, welchen Fehler du immer machst.“
    „Ja, sag es mir bitte.“
    „Du bist zu eilig und zu impulsiv. Du siehst ein interessantes Fernsehprogramm, du liest ein fesselndes Buch, du hörst von einem aktuellen Problem, du bewunderst ein Kunstwerk. Du sagst: ,Das ist aber prima’ oder ,Mensch, ist das hübsch’, oder Ja, der da, der hat eigentlich recht.’ Aber du versuchst nicht, tiefer in die Sache einzudringen. Verstehst du, was ich meine, Renilein?“
    „Ja – a“, sagte ich zögernd. „Es ist bestimmt was dran, aber – kannst du mir nicht ein Beispiel sagen?“
    „Natürlich kann ich das, sogar viele. Wir sahen zum Beispiel den „Don Carlos“, weißt du noch, das Gastspiel…“
    „Natürlich erinnere ich mich daran!“
    „Ja, siehst du, ich rannte nachher zur Leihbibliothek und borgte ein Buch über diese damalige Zeit, also ein historisches Werk, ich las die reinen geschichtlichen Tatsachen über den jungen Carlos, über sein trauriges Schicksal und über die Inquisition. – Ja, und nun etwas anderes: Wir haben uns in unseren Gesprächen mit Erich viel mit dem Rassenproblem beschäftigt, das liegt ja nahe wegen Christel. Du sagtest, und ich bin ganz deiner Meinung, daß die Hautfarbe gar keine Rolle spielt, du unterscheidest nur zwischen netten und nicht netten Menschen. Aber du hast bestimmt nie darüber nachgedacht, woher das Rassenproblem kommt. Du hast nichts über die Entstehung oder die Entwicklung dieses Problems gelesen. Hast du nie einer Sache gegenübergestanden, die dich zum Weiterdenken brachte?“
    „Ja – doch – “, sagte ich. „Erst kürzlich. Vor einer Woche. Und zwar beim Sezieren. Ich hatte ein Präparat vor mir, es war die Hand einer alten Frau. Kaum als menschliche Hand zu erkennen, so gekühlt und desinfiziert –, aber ich stand also da, und plötzlich dachte ich daran, wieviel Arbeit diese alte Hand wohl geleistet hatte. Die Knochen waren verkalkt, zum Teil deformiert. Es war die Hand einer Frau, die viel geschuftet hatte. Dann dachte ich, wie es kam, daß diese Hand vor mir lag und als Studienobjekt diente. Vielleicht lag ein Bein auf einem anderen Tisch, vielleicht war Jessica dabei, die andere Hand zu sezieren. Warum lag diese Frau nicht in einem Grab? Ja, ich weiß, daß diese Präparate meist von Menschen stammen, die ganz arm sterben, und vor allem ganz einsam, von Menschen, die keine Familie haben. Und dann tat die alte Frau mir so leid. Vielleicht war sie jahrelang allein, all die ihren waren gestorben, hatte sie vielleicht todeinsam in einer kleinen Bude gewohnt, war sie womöglich ganz allein gestorben, hat man sie erst nach Tagen tot im Bett gefunden? Ja, dann taten plötzlich alle einsamen alten Menschen mir so furchtbar leid, und ich dachte daran, daß es doch möglich sein müßte,

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