Unberuehrbar
es Elizabeth gab – weil sie wusste, dass Elizabeth Red mindestens ebenso liebte wie sie selbst. Frei ertrug das einfach nicht. Aber was für ein Recht hatte sie, dagegen zu protestieren?
Gar keins.
Frei fühlte sich furchtbar schlecht deswegen. Aber sie begann, Elizabeths Anblick zu verabscheuen.
Und wann immer sich ihre Blicke trafen, wusste sie, dass es Elizabeth genauso ging.
Kapitel Zwei
46 West Street, Kenneth, Missouri
Schon lange bevor der Kleinbus endlich in die West Street einbog, beschlich Cedric das unangenehme Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Er hätte nicht sagen können, was dieses Gefühl hervorrief. Es war nur eine üble Ahnung, die sich einfach nicht vertreiben ließ. Sie kribbelte in Cedrics Nacken wie die Beine einer hartnäckigen Fliege, und da half es auch nichts, dass er sich immer wieder zu beruhigen versuchte.
Rein äußerlich schien auf der Straße, in der er nun seit fast fünfzig Jahren lebte, alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Die Großraumbüros ober- und unterhalb seiner Wohnung waren wie üblich hell erleuchtet, und nur seine Fenster waren dunkel. Die Scherben auf dem Gehweg waren längst weggekehrt, und die Blutflecken, die Frei nach ihrem Sprung hinterlassen hatte, waren spätestens unter dem starken Frühjahrsregen, der kurz nach ihrer Ankunft in der Stadt eingesetzt hatte, fortgeschwemmt worden. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas Ungewöhnliches vorgefallen war.
Aber Cedric wusste es besser. Und das ungute Gefühl blieb.
Der Fahrstuhl, der sie aus der Tiefgarage in den siebten Stock befördern sollte, war für sieben Personen ziemlich eng. Es war ein Glück, das die Fahrt nur wenige Sekunden dauerte. Trotzdem hatte Cedric bereits in diesen kurzen Augenblicken das Empfinden, dass sich die Luft mit einer fast unerträglichenSpannung auflud. Und als die Fahrstuhltür endlich mit einem leisen Zischen zur Seite glitt und sie alle in die Wohnung spuckte, war es, als hätte er seit einer Stunde nicht mehr geatmet.
Still und dunkel lag der Wohnraum vor ihnen. Das kühle Licht der Straßenbeleuchtung ließ die Möbel nur als schwarze Silhouetten vor der Fensterfront erscheinen.
Langsam trat Cedric weiter in die Wohnung hinein und blieb schließlich neben dem Flügel stehen. Die anderen verharrten noch beim Eingang, obwohl sich die Tür längst hinter ihnen geschlossen hatte – als wagten sie sich nicht näher heran, ehe er sie nicht hereinbat.
Cedric legte die Hand auf den Rahmen des Flügels und ließ den Blick aufmerksam durch den Raum schweifen. Nichts hatte sich verändert. Und alles war ruhig.
Zu ruhig.
In diesem Augenblick erklang hinter ihm, wie zur Antwort auf seine Gedanken, ein erstickter Schrei. Cedric fuhr alarmiert herum und sah, wie Frei sich zwischen Red und Kris hindurch drängte und nach vorn stürzte, durch den Raum hastete, bis sie beim Tisch an der Fensterfront stand.
Und jetzt, wo er noch einmal genauer hinsah, erkannte er es auch.
Es war ihm nicht sofort aufgefallen, weil sich die schlanken Stängel von Freis Gladiolen noch immer unverändert stolz und aufrecht in die Höhe reckten. Doch die länglichen Gebilde, die aus dem Blütenstand ragten, waren nicht die zur Nacht geschlossenen Knospen. Es waren nur noch die nackten Staubblätter, sorgsam von jedem einzelnen Blütenblatt befreit. Wie blutrote Tropfen sprenkelten die vertrockneten Überreste den Tisch und den Boden davor. Cedric sah, wie Frei die Hand vor den Mund presste. Sie atmete heftig, und ihre Schultern zuckten. Cedric wusste, was es bedeutete, wenn sie so atmete. Es warlange her, dass Frei die Kontrolle verloren hatte. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass es nie wieder vorkommen konnte. Sie war erschöpft, aufgewühlt, und sie hatte seit Stunden nichts getrunken. Und jetzt ihre Blumen …
Cedric handelte sofort. Mit ein paar Schritten war er bei ihr, legte den Arm um sie und zog sie weg vom Tisch. Frei krallte die Finger in seinen Ärmel und fiel keuchend gegen ihn.
Cedric festigte seinen Griff um ihren Brustkorb. »Kris!«
Hinter ihm erklangen eilige Schritte auf dem Teppich. Kris zögerte niemals, wenn es wichtig war. Einen Augenblick später tauchte er neben ihnen auf. Cedric drückte das zitternde Mädchen in seine Arme. Er musste nichts sagen, damit Kris wusste, was er zu tun hatte. Er zog sie an sich und strich ihr sanft über den Kopf, flüsterte ihr etwas zu, das Cedric nicht verstand.
Langsam verebbte das Zittern, das Freis Körper
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