Unberuehrbar
verkrampft und ihre Lippen verbissen zusammengepresst. Sie musste nichts sagen, um die Nacht mit hilfloser Traurigkeit zu füllen.
Schließlich trat Kris noch einen Schritt auf sie zu und beugte sich ein Stück herunter, um mit den Lippen leicht ihre Stirn zu berühren.
»Leb wohl«, sagte er leise und lächelte.
Hannah nickte. »Du auch«, murmelte sie. Dann wandte sie sich brüsk ab, und ohne noch einmal jemanden anzusehen, sprang sie auf den Beifahrersitz neben Eloy und knallte die Tür hinter sich zu, so dass jenseits der verspiegelten Scheiben nur noch ein Schatten von ihr zu sehen war. Ihren steifen Rücken und die abweisend vor der Brust verschränkten Arme aber konnte man noch immer erahnen.
Der Motor des Minibusses röhrte auf. Kris trat zurück und stellte sich zwischen Red und Cedric. Gemeinsam beobachteten sie, wie der Bus wendete und sich schließlich rasch entfernte.Eine ganze Weile noch war seine kleiner werdende Silhouette auf der Straße zu sehen, die zurück in Richtung Stadt führte, ehe die Dunkelheit ihn endgültig verschluckte. Und schließlich verklang auch das Dröhnen des Motors. Die Nacht war wieder still.
Kris legte Red leicht eine Hand auf die Schulter. Und als Red aufsah, bemerkte er ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht des Vampirs, das wie ein flüchtiger Schatten über seinen Zügen hing.
»Also, Red. Ich denke, jetzt ist es an dir, uns den Weg zu zeigen.«
Red schluckte trocken. Es war ein seltsames Gefühl, dachte er. Voranzugehen, das war er nicht gewöhnt. Aber es war nicht abzulehnen. Nicht nur Kris. Auch Cedric, Blue und Elizabeth. Sie alle sahen ihn an, schweigend und erwartungsvoll. Er war jetzt der Einzige von ihnen, der diesen Weg schon einmal gegangen war. Und auch wenn der Wald in der Dunkelheit und so ganz ohne den Schnee, der beim letzten Mal in den Zweigen gehangen hatte, ein Gesicht trug, das Red noch nicht kannte – er wusste genau, in welche Richtung er gehen musste.
Unwillkürlich legte er die Hand auf den Griff des Revolvers an seinem Gürtel. Der Revolver, den Colin ihm abgenommen hatte. Der Revolver, der Chase getötet hatte. Kris hatte ihn Red zurückgegeben, kurz bevor sie aufbrachen. Das blanke Holz fühlte sich fast schmerzlich vertraut an. Red schloss die Augen und atmete tief durch. Dann nickte er.
Er würde sie nicht enttäuschen. Keinen von ihnen. Vor allem nicht Chase.
Entschlossen wandte er sich um und tauchte als Erster ein in die Schatten des Haywood Forest. Das Abflussrohr war gar nicht weit von hier. Und auch White Chapel nicht.
Der Mond war nicht mehr voll in dieser Nacht. Aber er leuchtete so hell, dass er düster regenbogenfarbene Ränder um die vorbeijagenden Wolken malte.
Red fand den Weg zu der steilen Böschung, wo das Abflussrohr in ein ausgetrocknetes Flussbett mündete, tatsächlich ohne Schwierigkeiten wieder. Und selbst wenn er sich des Weges nicht so sicher gewesen wäre, hätte er sich vermutlich kaum schwergetan. Man roch die Stelle schon von weitem.
Schon im Winter war es nicht gerade eine angenehme Vorstellung gewesen, auf allen vieren durch halbgefrorene Fäkalien zu kriechen. Doch damals hatten sie wenigstens die Schutzanzüge gehabt, von denen die Brühe abperlte wie von einem Lotosblatt – und Red war zudem von einer Motivation getrieben worden, die alles andere nebensächlich scheinen ließ. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, dass der Abfluss so widerlich gestunken hatte. Diesmal allerdings zog sich sein Magen vor Übelkeit zusammen, als er die Böschung hinabsprang und bis zu den Knöcheln in dem Schlamm einsank, der sich unter dem Rohr gebildet hatte, aus dem stetig eine trübbraune Flüssigkeit tröpfelte.
Er wandte sich um und beobachtete, wie die anderen ihm folgten. Kris, Cedric und Blue überwanden die zwei Meter ebenfalls im Sprung. Nur Elizabeth blieb noch einen Moment am Rand der Böschung stehen und musterte den steilen Hang mit kritischem Blick. Kris streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr beim Abstieg behilflich zu sein. Aber sie schüttelte den Kopf und kletterte schließlich zuerst auf das breite Rohr und von dort aus auf den Grund des Flussbetts hinab.
»Also«, sagte Red, als schließlich alle wohlbehalten unten angekommen waren, und sah ein wenig unschlüssig zu der dunklen Öffnung des Rohrs hinauf, »da wären wir.«
Er wartete einige Sekunden, ob irgendjemand Anstaltenmachen würde, vor ihm in das Rohr zu klettern. Von hier aus war es schließlich sozusagen unmöglich, den
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