Unberuehrbar
Kopf war schon seit Stunden nichts mehr zu spüren. Und Red hatte das sichere Gefühl, dass auch Chase sich nicht zeigen würde. Nicht, solange Elizabeth in der Nähe war.
Sein einziger Trost war, dass es, kaum dass die Sonne endgültig hinter den Bergen verschwand, sehr rasch dunkel wurde. Red hoffte, dass dann nicht mehr so viele Menschen auf den Straßen unterwegs sein würden, so dass ihm wenigstens eine Nacht blieb, um darüber nachzudenken, wie er sich gegenüber diesen fremden Leuten verhalten sollte. Was er ihnen
sagen
sollte. Elizabeth hatte bisher taktvoll darauf verzichtet, ihn über seine Herkunft und seine Ziele auszufragen. Aber selbst wenn sie die Neugier, die in ihren Augen funkelte, wann immer sie ihn ansah, auch weiter im Zaum halten konnte – bei mehrals neunhundert Menschen in diesem Ort war es ganz unmöglich, dass nicht wenigstens einer schon bald unangenehme Fragen stellen würde. Unangenehm vor allem deshalb, weil Red nicht die Wahrheit sagen durfte. Das war das Einzige, was er mit Sicherheit wusste.
Im Tal flammten inzwischen Lichter auf und tauchten Kinlochliath in eine gelb leuchtende Aura. Schon bald konnte Red kaum noch sehen, wohin er die Füße setzte. Doch zum Glück erreichten sie schon kurz darauf einen breiteren, gut begehbaren Weg, der sie an ersten vereinzelten Häusern vorbeiführte. Schafe lagen wie helle, wollige Kugeln zum Schlafen zusammengerollt im Gras. Hinter den Fenstern der Häuser schimmerte flackerndes Licht, wie von Kerzen. Ein Stück voraus aber erkannte Red elektrische Laternen, die ihr dämmriges Licht auf den Weg warfen. Seine Anspannung wuchs.
Doch zu seinem Glück stellte er schnell fest, dass die schmalen Straßen der Siedlung längst wie ausgestorben waren, die Türen fest verschlossen und die Vorhänge zugezogen. Bei manchen Fenstern waren sogar die Läden verriegelt, als hätten die Gebäude zum Schlafen die Augen geschlossen. Die einzigen Geräusche waren Reds und Elizabeths Schritte auf dem alten und mehrfach ausgebesserten Asphalt und das Rauschen und Plätschern des Flusses, der sich durch den Ort wand. Irgendwo in der Ferne schrie eine Katze. Es roch nach feuchten Steinen und Moos, vermischt mit dem Duft von gebratenem Fleisch, Zwiebeln und Brühe. Reds Magen begann leise zu grollen. Elizabeth hatte unterwegs ihren Proviant mit ihm geteilt – Weißbrot und Schafskäse und geräucherten Schinken. Nichts Besonderes eigentlich. Aber wie lange hatte Red sich fast ausschließlich von Haferplätzchen, Trockenobst und Nüssen ernährt? Ganz zu schweigen von dem nahrhaften, aber nahezu geschmacklosen Brei, den Kris als Notfallration ausdem Versorgungslager für die Menschen in White Chapel entwendet hatte. Aber aus Insomniac Mansion hatten sie nicht viele unverderbliche Lebensmittel mitnehmen können, und Menschennahrung war schwer zu bekommen, wenn man kein unnötiges Aufsehen erregen wollte. Da war es kein Wunder, dass der Geruch einer Mahlzeit – einer
richtigen
Mahlzeit – Reds Magen in Aufruhr versetzte. Aber natürlich konnte er kaum einfach an irgendeiner Tür klopfen und fragen, ob er mitessen durfte.
Elizabeth führte ihn am Ufer entlang, über eine Brücke und vorbei an Reihen von Häusern, so winzig, dass Red sich nicht sicher war, ob sie die Bezeichnung »Haus« überhaupt verdienten. Kein Vergleich mit den mehrstöckigen Wohnkästen der Farm oder dem riesigen Anwesen von Insomniac Mansion – geschweige denn mit den Hochhäusern von Kenneth, deren oberste Etagen in den diesigen Ausdünstungen der Großstadt verschwanden. Vereinzelte Fenster waren erleuchtet, und die Schattenrisse von Menschen bewegten sich hinter den dicken Gardinen. Manchmal, wenn ein Spalt offen geblieben war, sah Red die Personen, die die Schatten warfen. Fremde Gesichter. Menschliche Gesichter – nicht die ewig alterslosen Mienen von Vampiren. Reds Herz schlug schneller.
Menschen.
Seinesgleichen. Und doch so ganz anders als alle Menschen, die er kannte. Denn wenn es hier Vampire gab, dann verbargen sie sich gut. Diese Menschen waren unberührt. Wie auch immer sie das geschafft hatten.
Am Ende einer weiteren schmalen Straße hielt Elizabeth schließlich auf eines der Häuschen zu. Es hatte nur ein Stockwerk, ein spitzes Dach und einen kleinen Vorgarten. Ein kiesbedeckter Weg führte hinter einem blau lackierten Holztor zur Vordertür. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf – und auchhier waren die Fenster erleuchtet. Red blieb wie angewurzelt stehen.
»Elizabeth, du
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