Unberuehrbar
Mosaik
unserer Zukunft – immer ängstlich,
uns zu schneiden.
Kapitel Eins
Kinlochliath, Schottland
Sie erreichten den Gipfel in der Abenddämmerung. Zuvor waren sie eine ganze Weile einem Trampelpfad bergauf gefolgt, zwischen schroffen Felsen und Heidekraut hindurch. Red hielt sich dicht hinter Elizabeth. Zu Anfang hatte es ihn kribbelig gemacht, sich an ihr für seine Begriffe gemächliches Tempo anzupassen. Elizabeth ging nicht langsam, das nicht. Aber es war kein Vergleich zu dem Schritt, den Red sich angewöhnt hatte, wenn er allein war – oder der Geschwindigkeit, mit der er sich während der Jagd in Kenneth oder beim Training mit Chase bewegte. Obwohl er sich bemühte, nicht zu ungeduldig zu werden, hatte er von Zeit zu Zeit das Gefühl, sie würden bei dieser Gangart niemals irgendwo ankommen. Jetzt aber bestiegen sie – laut Elizabeths Worten – den letzten Gipfel an diesem Tag. Gerade rechtzeitig, ehe es dunkel wurde. Der Pfad wand sich um eine Felsnase herum und stieg ein letztes Mal steil an.
Und dann, als er endlich vom Kamm des Berges in das langgestreckte Tal zwischen zwei weiteren Bergketten hinunterblicken konnte, sah Red die Stadt.
Tatsächlich war es nicht viel mehr als eine Ansammlung von Häusern, die sich in der Talsenke aneinanderdrängten, umgeben von dichtem Wald auf der einen und Viehweiden und kleinen Feldern auf der anderen Seite. Auf dem benachbarten Gipfel entdeckte Red etwas, das aussah wie große Windräder, die sich langsam drehten. Über Holzmasten führten Stromleitungen von dort ins Tal. Ein schmaler Fluss schlängelte sichdurch die Siedlung und mündete schließlich in einen See, der im roten Licht der Abendsonne funkelte. Und auf einer Insel, einige hundert Meter vom Ufer entfernt, erhob sich eine halbzerfallene Burg.
Elizabeth war ebenfalls stehen geblieben. Ihr Atem ging ein wenig schwer, und einzelne Haare hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und klebten ihr schweißfeucht in der Stirn. »Also das«, sie warf Red ein kurzes Lächeln zu, »ist Kinlochliath. Und, findest du, es ist eine Stadt?«
Red antwortete nicht sofort. Ein seltsamer Druck lag plötzlich auf seiner Brust, der ihm die Luft nahm. Er hatte das Gefühl, nicht sprechen zu können, selbst wenn er gewollt hätte. Sicher, die Häuser dort unten waren klein, mit spitzen Dächern und nicht kastenförmig. Ihre Anordnung war wie willkürlich hingeworfen und ohne erkennbare Struktur. Und trotzdem rief ihr Anblick sofort eine Erinnerung in ihm wach. Ein vertrautes Gefühl und gleichzeitig unendlich weit entfernt.
Die Farm.
OASIS. Der Ort, an dem er aufgewachsen war. Hier zu stehen und auf das winzige Städtchen hinunterzublicken – absurderweise war es, als würde er in dieses fast vergessene Zuhause zurückkehren.
»Red September?« Elizabeths Finger berührten ihn an der Schulter. Red blinzelte kurz und schüttelte leicht den Kopf, um sich von dem seltsamen Gefühl loszureißen. Nein, dies war nicht die Farm. Die beiden Orte hatten nicht das Geringste miteinander zu tun. Und selbst wenn es die Farm wäre – jene Menschenzuchtstation, die Tausende von Meilen entfernt von hier lag –, er könnte doch nie wieder wirklich Teil davon sein. Unwillkürlich tastete Red nach den verfilzten Haaren in seinem Nacken. Er wollte es ja nicht einmal.
»Red … nur Red, das reicht«, murmelte er und warf Elizabetheinen schnellen Blick zu. Dann versuchte er ein Lächeln, in der Hoffnung, dass es den verwunderten Ausdruck auf ihrem Gesicht vertreiben würde. »Ich denke, es ist einfach eine sehr kleine Stadt, oder? Wie viele Menschen leben bei euch?«
Elizabeth seufzte und schob die Hände in die Hosentaschen. »Knapp über neunhundert. Viel zu wenig, wenn du mich fragst. Irgendwann kennt man wirklich jeden.« Sie zuckte die Schultern. »Na ja, was soll’s. Gehen wir, bevor es dunkel wird.«
Sie lief den Hang hinunter und kletterte über einige verwitterte Felsbrocken hinweg abwärts. Red folgte ihr in einigem Abstand. Was Elizabeth zuletzt gesagt hatte, hinterließ einen schalen Geschmack auf seiner Zunge. In Kinlochliath kannte jeder jeden? Das bedeutete, er würde jedem, wirklich jedem einzelnen Menschen, dem er begegnete, sofort auffallen. Wie wünschenswert war das wohl, in einer Stadt, in die, wie Elizabeth sagte, niemals Fremde kamen? In diesem Augenblick wünschte sich Red, dass er doch erst mit Kris hätte sprechen können, ehe er ihr folgte – oder wenigstens mit Chase. Aber von der Schwärze in seinem
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