Und alles nur der Liebe wegen
Er ist aus dem Ferieninternat weggelaufen, seitdem verschollen. Ein Verbrechen ist nicht auszuschließen.«
Dr. Hembach erschrak. »Das ist ja entsetzlich«, sagte er leise, »und wie sollen wir das den Mädchen –«
»Das ist der Punkt, den ich mit Ihnen besprechen muß«, unterbrach ihn der Direktor. »Die beiden dürfen auf gar keinen Fall von anderer Seite davon erfahren – wollen Sie das bitte übernehmen, Herr Hembach?«
»Um Gottes willen – ich?«
»Sie haben zu Ihrem Kurs einen guten Kontakt. Sie können es den beiden schonend beibringen. Ja, und noch eins – die Mädchen sollen auf Wunsch des Vaters die Freizeit abbrechen und nach Hause kommen. Ich habe mir gedacht, daß Sie die Zwillinge nach Deutschland zurückbegleiten und dann wieder nach St. Wolfgang kommen. Ihren Kurs wird so lange der Kollege Wülfring übernehmen. Ich habe mit ihm schon gesprochen. Sie können in drei Tagen wieder dort sein. Wir wollen uns keiner Fahrlässigkeit schuldig machen, das verstehen Sie doch?«
»Selbstverständlich.« Dr. Hembach sah Karin und Monika vor sich, wie er sie gestern noch auf der Brudlerhütte gesehen hatte: fröhlich, ja ausgelassen und sorglos. Und das war nun alles vorbei, und er mußte es ihnen sagen. »Wann sollen wir fahren?« fragte er mit belegter Stimme.
»Am besten morgen schon mit dem Zug um sieben Uhr dreiundzwanzig nach Salzburg. Wie wollen Sie es den Mädchen sagen?«
»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Dr. Hembach ehrlich. »Ich muß mir das genau überlegen, sie hängen sehr an ihrem kleinen Bruder.«
Er entschloß sich, nicht alles durch umschreibende Worte noch zu verschlimmern. Karin und Monika waren vernünftige Mädchen; man konnte mit ihnen reden wie mit Erwachsenen. Er ging in den Frühstücksraum zurück und bat die Zwillinge, ihm ins Foyer zu folgen. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er. Er spürte, wie sich seine Kehle verengte. Dann wandte er sich ab und stellte sich ans Fenster. Wie sag' ich es ihnen, dachte er immer wieder, wie fange ich es an? Er fuhr herum, als Karin sich hinter ihm räusperte.
»Ich weiß, warum Sie uns rufen lassen, Herr Doktor«, sagte sie, »es ist wegen des Fotos. Ich verspreche Ihnen, es niemand zu zeigen.«
O Gott, dachte Hembach, das macht alles nur noch schwerer. Wie soll ich ihnen jetzt erklären, was geschehen ist? »Über das Foto unterhalten wir uns ein anderes Mal«, sagte er nach einer Pause. Er sah zu Monika hinüber, die mit im Schoß gefalteten Händen vor ihm saß, ganz anders als Karin, die nervös an ihrem weißen Pullover zupfte. Jetzt konnte man den Unterschied zwischen den Zwillingen deutlich erkennen, obgleich sie wie immer äußerlich nicht auseinanderzuhalten waren. Aber ihre Reaktionen auf diese Aussprache waren grundverschieden: Monika wartete ab, Karin unterdrückte nur mühsam ihre Erregung.
»Wir müssen die Freizeit abbrechen«, hörte Dr. Hembach sich sagen.
»Oh, warum?« fragte Karin überrascht.
»Nicht alle, nur Sie beide gehen nach Köln zurück, und ich begleite Sie auf der Bahnfahrt.« Er sah die erschrockenen Augen der Zwillinge und blickte zur Seite. »Ihr Bruder ist spurlos verschwunden.« Seine Stimme klang heiser. »Ihr Vater ist ebenfalls auf dem schnellsten Weg nach Hause gefahren.«
In den Augen der Schwestern lag Unglaube. Es war, als begriffen sie nicht gleich, was sie gehört hatten. »Peter ist weg?« fragte Monika als erste leise.
»Ihre Mutter hat ihn in ein Ferieninternat im Schwarzwald gebracht. Von dort ist er ausgerissen und bis heute nicht wieder aufgetaucht, trotz aller Suchaktionen über Fernsehen und Funk.«
Karin sprang auf. »Warum hat Mutter ihn denn –«
»Das wissen wir nicht. Ihr Vater hat nur sagen lassen, daß Sie nach Köln zurückkommen möchten. Der Direktor hat dem zugestimmt, und wir fahren morgen früh.«
»Warum nicht gleich?« rief Karin. »Es geht ein Nachtzug nach Salzburg und weiter nach München. Wenn wir den nehmen, können wir schon morgen mittag in Köln sein! Peter verschwunden … Arme Mutter! Bitte, Herr Doktor, lassen Sie uns heute nacht noch fahren!«
»Das geht nicht. Es ist nicht gepackt, wir haben keine Fahrkarten.«
»Wir sind in zehn Minuten reisefertig.«
Monika sprang auch auf. In ihren Augen standen Tränen. »Peter wird doch – noch leben?«
Dr. Hembach sah nervös auf die Uhr. Bis zum Abgang des letzten Zuges war noch eine Stunde Zeit. Man verlor nichts, wenn man nachts fuhr; man gewann sogar den halben nächsten Tag. Schlafen
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