Und da kam Frau Kugelmann
ihnen doch ein wenig Neid dahinter oder Standesdünkel, den eigenen Kindern fiel schließlich das Lernen nicht so leicht wie dem Schnorrersohn Jankel. Im Grunde war die Schule froh, Jankel wieder loszuwerden. Leon Jungblut aber verlor seinen Schützling nicht aus den Augen und kaufte ihm in aller Stille ein halbes Jahr später ein Lastpferd, als das alte, von Krankheit und Auszehrung geschwächt, auf der Straße krepierte.
Wir haben doch in unserem kleinen Königreich fernab von der großen Armut gelebt. Später, als wir aus unseren schönen Wohnungen hinausgeworfen wurden, haben wir am Rynek, am Marktplatz, mit den Ärmsten auf engstem Raum zusammengewürfelt gelebt. Da habe ich erfahren, wie groß das Elend wirklich war. Wir, die Wohlhabenden und Reichen, verarmten langsam, die Armen dagegen verelendeten vor unseren Augen, von einem Tag zum anderen.
Unser Pechvogel Mietek
Als Jankel unser Fürstentum verließ, trauerten wir ihm nicht nach. Unter den Klassenkameraden hat er keinen Freund gefunden, er hätte auch keinen von uns neben sich auf der Schulbank geduldet. Er war halt anders als wir, saß ganz alleine für sich. Adam und ich saßen in der Reihe vor ihm. Anfangs habe ich mich noch oft zu ihm gedreht, um ein Schwätzchen zu halten. Er antwortete einsilbig und abweisend. Ich wandte mich beleidigt ab, und mein Interesse erlahmte rasch. Nach einer Weile grüßte ich ihn nicht mehr. Es schien ihn nicht zu stören. Adam dagegen schenkte ich meine volle Aufmerksamkeit, in ständiger Sorge, meine glühende Liebe könne ihm lästig fallen. Ich befürchtete, er würde eines Tages meiner überdrüssig werden und sich kurzerhand zu Jankel in die Bank setzen. Die Sorge war ich nach Jankels Abgang endlich los. Ich atmete auf, als an einem Morgen im April seine Bank leer blieb. Mietek, der Pechvogel, und Fettauge beeilten sich, seinen Platz zu besetzen, denn die hintere Bank war sehr begehrt. Wir vier befreundeten uns rasch und wurden zum Glück nicht umgesetzt.
Mietek war der Jüngste in unserer Viererbande. Er war in der Schule beliebt, aber zu Hause, auf dem düsteren Hinterhof, in dem er wohnte, hatte er weitaus weniger Glück. Deshalb wurde er von uns Pechvogel gerufen. Ich weiß nicht mehr, wer den Namen erfunden hat, aber passend war er schon, denn Mietek wurde von den Gassenjungen des ärmlichen dritten Hinterhofs verachtet und verspottet. Sobald sie ihn sahen, rannten sie hinter ihm her und hänselten ihn. ›Scheibele Broit, Scheibele Broit‹, schrien die feuerroten kleinen Teitelbaum-Söhne feixend. Mietek, der auf dem besseren, dem ersten Hinterhof wohnte, flüchtete, so schnell er konnte, und schlug die Wohnungstüre fest hinter sich zu.
In der Tat bat Mietek seine Mutter um eine Scheibe Brot, wenn er hungrig war. Dass Mietek das Jiddisch des armseligen dritten Hinterhofs nicht sprach, lag daran, dass die Familie vor kurzem aus Hannover nach Bendzin umgezogen war, um im gleichen Haus ein Stockwerk unter den Großeltern zu leben, denen zwei Wohnungen im ersten Hinterhof gehörten.
Mieteks Vater war ein glühender Zionist. Er wollte von Hannover aus nach Palästina auswandern, aber der Rabbiner riet ihm, mit der Auswanderung zu warten, bis Mieteks kleine Schwestern größer wären, damit sie das heiße Klima besser vertrügen. Der Vater folgte dem rabbinischen Rat, verkaufte seinen gesamten Besitz und zog für die Zeit des Wartens mit seiner Familie nach Bendzin zurück, in die Stadt, die er als Fünfzehnjähriger verlassen hatte.
Wegen der hysterischen Kleinowa hatte Mietek von seinem Vater die erste Ohrfeige seines Lebens bekommen, eine Ohrfeige, die er noch lange auf seiner Backe spürte. Bei der Elternbesprechung sagte unsere strenge Polnischlehrerin, der Mietek müsse die Klasse wiederholen, wenn er nicht bald die polnische Grammatik beherrsche. Bei der Aussprache würde sie beide Augen zudrücken, aber der Vater solle zu Hause mit der Familie polnisch sprechen, damit Mietek sich an die schöne polnische Sprache gewöhne.
›Jetzt will die verrückte Kleinowa mir vorschreiben, welche Sprache ich zu Hause zu reden habe!‹, polterte der Vater und schlug ihn ins Gesicht, dass Mietek vor Kummer und Schmerz ganz schwindelig wurde. ›Es ist schon Umstellung genug, dass ich deiner Mutter zuliebe mit den Leuten auf dem Hof Jiddisch rede, damit wir nicht als Fremde angesehen werden!‹, schrie er den Sohn an. ›Wegen deiner Faulheit eine Klasse wiederholen, was das uns für eine enorme Summe Geld
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