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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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teile sie sich noch vor dem Verlassen des Fabrikgebäudes die Gabe mit ihnen.
    Eines Tages, außerhalb der festgeschriebenen Schnorrertage, stand Malka Feiga vor der Fabriktür und wartete auf Adams Vater. Sie bitte um Hilfe für ihren ältesten Sohn Jankel, sagte sie. Er, als Einziger ihrer acht Kinder, leide an einem besonderen Hunger, den keine Mahlzeit stillen könne. Ein unruhiger Geist quäle ihn tagein, tagaus, als leide er wie an einer offenen, nicht heilenden Wunde. Sie glaube, es sei ein Hunger nach Bildung, aber so genau wisse sie es nicht.
    Leon Jungblut setzte sich für Malka Feigas hochbegabten Sohn ein, und so kam er zu uns auf die Schule. Ein Schnorrersohn als Fürstenberg-Schüler! Anfangs mochten wir ihn nicht, es war, als hätten wir einen Erwachsenen mitten unter uns. Jankel musste morgens vor Schulbeginn, sommers wie winters, Brötchen austragen. Als Belohnung für die ausgetragenen Brötchen durfte er ein halbes Dutzend einbehalten, um den Geschwistern am Morgen den Magen mit etwas Festem zu füllen. Im Winter waren seine Hände oft blau gefroren, und die Lehrer erlaubten ihm, sie in der ersten Stunde an der Heizung zu wärmen. Nach der Schule verdingte er sich als Gehilfe bei dem Fuhrmann Bennek, um im Sommer Waren auszuliefern, Klempnerwerkzeuge für die Bauarbeiter oder Altmetall für den Schrotthändler Davidson. Im Winter luden sie Eisblöcke auf, die aus dem zugefrorenen See nahe der Ziegelei geschlagen wurden, und belieferten unsere Metzger.«
    »Was für Eisblöcke hatten Sie in Bendzin?«, unterbreche ich Frau Kugelmann unvermittelt. Ich verberge meine angespannte Neugierde hinter einem ruhigen, überlegenen Ton. »Wie haben sie ausgesehen? Wie lange hielt die Kühlung an?«
    »Sie wollen ernsthaft wissen, wie die Eisblöcke ausgesehen haben? Wegen so einer blödsinnigen Frage unterbrechen Sie mich?«
    »Waren sie rechteckig oder quadratisch?«, frage ich spitz.
    »Es waren längliche rechteckige Kühlblöcke, die uns als Eisschrank dienten«, sagt sie außer sich.
    Ich nicke befriedigt und stelle mir einen schmackhaften Eisblock als Ergänzung zu meinen Frankfurter Eistruhen vor. Während Frau Kugelmann aufgeregt an ihren Zöpfen dreht, beiße ich mir auf die Lippe und beschließe, ihr genau zuzuhören.
    »Jankel fiel das Lernen leicht«, fährt sie fort und blickt mich dabei durchdringend an. »Das Spiel mit den Gedanken, wie er es nannte, machte ihm großen Spaß, und die Hände zum Schreiben und nicht zum Tragen der schweren Lasten zu gebrauchen war für ihn eine paradiesische Erholung, nein, es war weitaus mehr, es war die Freude am Geist. Er konnte ein einmal gelesenes Gedicht ohne weiteres rezitieren und um einige Strophen verlängern, als sei er der Dichter. Im Handumdrehen, mit federleichten Worten und so poetisch gab er den Sinn alles Gelesenen wieder, dass dabei ein neues Kunstwerk entstand. Trotzdem mochte ihn die Kleinowa, unsere hysterische Polnischlehrerin, nicht. Sie liebte die romantische Verklärung der Armut in ihren Büchern, der wirkliche Geruch der Armut empörte sie zutiefst. Eine Schuluniform hat der Jankel übrigens niemals getragen, das wäre für ihn eine Art Verkleidung, ein Purim-Spiel gewesen, das hat auch niemand von ihm verlangt. Die Honoratioren hätten ihm sicher eine abgetragene Uniform gegeben, oder die Schülerselbsthilfeorganisation hätte Rat gewusst, Jankel aber trug seine zerrissene, viel zu kurze Hose in einem selbst gewählten Abstand zu uns.
    Die Lehrer mochten ihn auch nicht, denn einer, der in die Schule kommt, um sich zu erholen, untergräbt die Autorität der Lehrer, stellt das System der Schule auf den Kopf. Fragt, wem und wozu das ganze Lernen diene, und kommt am Ende auf die Idee, dass das mit der Schule doch vielleicht nur ein von den Erwachsenen ausgedachtes Kinderspiel sei, bei dem unsere Lehrer zum Schein ganz einfach ernsthaft mitmachen.
    Nach einem Unfall mit dem Pferdewagen, als dem Fuhrmann Bennek ein schwerer Eisblock auf die Füße fiel, änderte sich alles. Der begabte Jankel konnte gegen ein wöchentliches Entgelt den Pferdewagen des Fuhrmanns mieten und seine ganze Familie vor großem Hunger bewahren.
    Für unsere Honoratioren war Jankel ein hoffnungsloser Fall. Er war wegen der großen Armut vom Schulgeld befreit, aber die bettelarme Familie zu unterstützen, damit der hochbegabte Jankel weiterlernen konnte, so wohltätig waren sie nun wieder nicht. Auch sein Gönner, Leon Jungblut, bot keine Hilfe an. Vielleicht war bei

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