Und dann der Himmel
neuerdings zur Vegetarierin mutiert und weigert sich, Fleisch auch nur anzufassen, geschweige denn zuzubereiten oder gar zu essen, und mein Vater wehrt sich dagegen, weiterhin „wie ein Huhn irgendwelche Körner in mich hineinzustopfen“. Er rächt sich mit psychologischer Kriegsführung und hat meine Mutter neulich gezwungen, ihm beim Verzehr einer fetttriefenden Schweinshaxe zuzusehen.
Im Grunde sind meine Eltern wie Hund und Katze, zwei alte Haustiere, die aus Gewohnheit ewig währende Kleinkriege führen, sich gegenseitig über die Polster jagen, das Futter neiden und sich anfauchen und bellen, um dann doch jedes Mal wieder festzustellen, dass sie sich zu sehr aneinander gewöhnt haben und keiner ohne den anderen auskommen kann.
„Die Fensterläden sind gestrichen!“ sage ich verwundert, während Rafael in einer Seitenstraße den Wagen parkt.
„Das haben sie im Sommer gemacht. Wie lange bist du nicht mehr hier gewesen?“ fragt Sabine.
Ich zucke mit den Schultern. „Ein paar Monate, glaube ich.“ Zu meiner Schande kann ich mich tatsächlich nicht mehr genau erinnern.
„Typisch“, brummt meine Schwester.
„Du bist doch nur deshalb öfter hier, weil du dann mal die Blagen für ein paar Tage abgeben kannst!“ gifte ich zurück.
„Einen Ort, der Himmelstadt heißt, sollte man so oft wie möglich besuchen“, wirft Rafael träumerisch ein. „Der Name sagt etwas über den Charakter der Einwohner aus.“
„Wart’s ab, bis du meine Eltern kennen lernst“, erwidere ich und gähne ausgiebig.
Wir klettern alle aus dem Auto und bauen uns vor der Haustür auf. Simon klingelt Sturm und gleich darauf kommen uns die leichtfüßigen Schritte meiner Mutter über den Flur entgegen.
„Kannst du nicht einmal den Schlüssel mitnehmen, wenn du einkaufen gehst, Leo?“ ruft sie und dann reißt sie mit einem verärgerten Gesichtsausdruck die Tür auf. Wahrscheinlich sehen wir aus wie eine Gruppe osteuropäischer Wirtschaftsflüchtlinge oder ein Wanderzirkus, schließlich haben wir alle mehrere Taschen und Koffer dabei, zwei minderjährige Kinder, einen Hamster samt Käfig und einen Hund so groß wie ein Kalb, der ausgerechnet in diesem Moment nichts Besseres zu tun hat, als meiner Mutter seine rechte Pfote zum Hitlergruß entgegenzustrecken. Rafaels Flügel, mehr schlecht als recht versteckt unter einer Jacke, vermitteln außerdem den Eindruck, als hätte er einen Buckel, und ich trage immer noch meine Mullbinde dekorativ um den Kopf geschlungen – jedenfalls ist das Erste, was meine Mutter sagt, als sie bemerkt, dass nicht mein Vater vor der Tür steht: „Tut mir Leid, wir kaufen nichts!“, und will uns die Haustür vor der Nase zuschlagen. Sabine schafft es gerade noch, einen Fuß auf die Schwelle zu setzen. Erst dann erkennt meine Mutter, dass sie ihre eigenen Kinder und Enkel vor sich hat.
„Großer Gott!“ erklärt sie entgeistert. „Seit ihr ausgebombt worden? Was wollt ihr alle hier?“ Ihre ruppige Begrüßung ähnelt der, mit der mich meine Schwester empfangen hat. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass herzlichen Gefühlen in unserer Familie schon immer mit Misstrauen begegnet worden ist. Um nicht zu zeigen, was man füreinander empfindet, flüchtet man sich lieber in Ironie oder Sarkasmus. Früher habe ich diese Reaktion als völlig normal empfunden, jetzt ist sie mir plötzlich unangenehm.
„Wir müssen jetzt hier wohnen, weil Marco Colette eine Schlampe genannt hat und dann hat er Papa die Nase eingeschlagen“, fasst Simon die Situation zusammen und klettert meiner Mutter auf den Arm.
„Wer ist Colette?“ fragt meine Mutter.
„Das Aupair-Mädchen, mit dem Klaus mich betrügt!“ antwortet Sabine grimmig. „Können wir reinkommen?“
Meine Mutter tritt einen Schritt zur Seite und wir drängeln uns an ihr vorbei in die Küche und lassen uns am Tisch nieder. Annika hat Hunger und bekommt eine Banane in die Hand gedrückt.
„Und wer ist das da?“ Meine Mutter zeigt anklagend auf Rafael, aber bevor ich eine weitere Ausrede erfinden kann, tuschelt Simon ihr etwas ins Ohr und meine Mutter fängt an zu lachen. „So“, sagt sie, „ein Engel! Simon, mein Schatz, du hast eine blühende Fantasie!“
Es dauert eine Weile, bis Sabine und ich meiner Mutter die komplizierten Ereignisse der letzten Tage erklärt haben, insbesondere da mein Vater, beladen mit mehreren Einkaufstüten, zwischenzeitlich nach Hause kommt, und wir alles noch einmal von vorne erzählen müssen. Zum Schluss haben die
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