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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Flucht nach vorn antreten, denn mehr als eine unscheinbare Kirche, ein Rathaus, das immerhin jeden Wochentag zwei Stunden geöffnet hat, und eine Mehrzweckhalle, in der im Herbst die Weinkönigin gekürt wird, hat der Ort nicht zu bieten. Obwohl das natürlich nicht ganz stimmt. Zwei Merkmale unterscheiden das Dorf von hundert ähnlichen in Franken: Es heißt Himmelstadt und hat aufgrund seines Namens einen ganz besonderen Draht nach oben.
    Einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten, kommt das Christkind ins örtliche Postamt und holt die Wunschlisten der Kinder aus dem gesamten Bundesgebiet ab. Das ganze Theater wird aus rein touristischen Motiven veranstaltet und jedes halbwegs klar denkende Kind durchschaut den Betrug sofort. Natürlich ist es nicht das echte Christkind, das da zum Briefmarkenschalter trabt und einen Postbeamten mit zuckriger Stimme fragt, ob es ein paar Kinderwünsche erfüllen könne. Es ist immer Annelie Birtle-Herkenrath, die Organistin der katholischen Gemeinde, die diese Rolle ehrenamtlich übernimmt. Sie bekommt eine Art weiße Toga übergeworfen, eine schlecht sitzende blonde Lockenperücke, an der ein goldener Heiligenschein aus Plastik festklebt, und sieht damit aus wie eine abgehalfterte Transe, die ihren Zenit im Showbusiness schon vor Jahren überschritten hat und nun zur Aufbesserung ihrer Rentenansprüche über die Dörfer tingelt. Aber zumindest die anwesenden Eltern sind begeistert, wuscheln ihrem angeödeten Nachwuchs aufgeregt durchs Haar und spülen durch die Übernachtungen dringend benötigtes Geld in die Gemeindekasse.
    Noch während ich darüber nachdenke, wie peinlich ich in meiner Jugend diese Posse jedes Jahr aufs Neue fand, wird mir plötzlich bewusst, dass ausgerechnet heute der Tag sein muss, an dem das Christkind-Spektakel über die Bühne geht und ich einen leibhaftigen Engel neben mir sitzen habe. Angesichts der Zwischenfälle im Dom und auf dem Weihnachtsmarkt schrillen bei mir sofort die Alarmglocken und ich befürchte das Schlimmste. Irgendwie muss ich ein Zusammentreffen zwischen Rafael und dem Christkind verhindern, ansonsten geht das Weihnachtsfest dieses Jahres in die Annalen der Stadtgeschichte ein.
    Meine Eltern bewohnen einen ehemaligen Wachturm der alten Stadtmauer, die sich seit dem Spätmittelalter ums Dorf gezogen hat, von der aber nur noch ein paar unbedeutende Reste zu sehen sind. Nur dieser eine Mauerturm blieb erhalten und bildet heute eines der Wahrzeichen der Stadt – eigentlich das einzige – und genau wie der Turm im Stadtbild, so haben sich meine Eltern in dem Turm festgesetzt. Als sie Ende der sechziger Jahre in Himmelstadt strandeten, nach einigen wilden Jahren in der Frankfurter Sponti- und Revoluzzer-Szene auf der Suche nach einem alternativen und etwas weniger aufregenden Lebensstil, war der Wachturm dem Abriss nahe. Das Mauerwerk verfiel, im morschen Dachstuhl nisteten Fledermäuse und fließendes Wasser und Strom waren auch nicht vorhanden. Aber es gab einen großen Weinberg direkt hinter dem Turm, der die besten Voraussetzungen besaß, eines Tages einen guten Tropfen hervorzubringen. Trotzdem wollte ihn niemand bewirtschaften. Der Gemeinderat hatte nämlich in einem verfrühten Anfall von Denkmalschutz festgelegt, dass der Pachtvertrag des Hanges die Instandsetzung des letzten Wachturms Himmelstadts mit einschloss, allerdings war niemand so blöd gewesen, auf dieses zweifelsohne Unsummen verschlingende Angebot hereinzufallen – bis meine Eltern kamen.
    Mithilfe des Kontos meines Großvaters, der froh war, dass seine Tochter und sein Schwiegersohn aus ihrer Hippiephase herauswuchsen, kauften sie Weinberg und Wachturm und machten sich daran, beides zu sanieren. Meine Mutter redete meinem Vater ein, er besäße handwerkliche Fähigkeiten, und übertrug ihm die Renovierung des Hauses und sie selbst machte sich an die Kultivierung der Rebstöcke. Beide Tätigkeiten dauern bis heute an und haben sowohl meine Schwester als auch mich davon abgehalten, jemals Wein zu trinken oder selbst Hand anzulegen, wenn auch nur der Abzug am Klo kaputt geht. Wir rufen lieber einen Handwerker, jemanden, der etwas von seinem Beruf versteht, und trinken Cocktails.
    Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem alle Wände rund sind und die Zimmer übereinander und nicht nebeneinander liegen. Meinen knackigen Hintern habe ich der steilen Wendeltreppe zu verdanken, die diese Räume miteinander verbindet. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in meiner Kindheit auch

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