Und dann kam Ute (German Edition)
Bänke des Spielplatzes nieder und vertiefte mich in einen Fachartikel der Gala . Plötzlich riss mich ein markerschütternder Schrei aus meiner Anteilnahme. «CEDRICK! CEDRICK, komm ma wacker nach die Mama. Wir müssen nach Hause! CEDRICK!»
Ich lupfte den Blick vorsichtig über den Zeitschriftenrand. Ein stark übergewichtiges und kurzbeiniges Muttertier versuchte ausschließlich mittels seiner wohlklingenden Stimme den zirka vierjährigen Nachwuchs zum Verlassen der Sandkiste zu bewegen. Der kleine Minibuddha zeigte allerdings keinerlei messbare Reaktion. In sein Spiel vertieft, versuchte er nicht nur den Sand aufzutürmen, sondern auch noch den ein oder anderen Kubikmeter desselben in sich reinzustopfen. Mama Nilpferd versuchte es erneut: «CEDRICK, die Mama geht jetzt! CEDRICK, die Mama geht jetzt!» Wieder keine Reaktion. Der Dicke zog ungerührt durch. Inzwischen flog schon schwarzer Mutterboden aus der Kiste. Respekt. Faul war er nicht.
Die Fleischwurstelfe schaltete einen Gang höher: «Cedrick, die Mama ist weg. Die kommt auch nicht mehr wieder! Cedrick, die Mama ist weg, die kommt auch nicht mehr wieder!»
Gefühlte zehn Minuten brüllte sie immer wieder wie von Sinnen dieselben Sätze in einer Lautstärke, die selbst hartgesottene «Metallica»-Fans schwer verunsichert hätte. Der Fleischklops im schwarzen Sand zeigte keine Reaktion. Stoisch und wie ferngesteuert versuchte er weiterhin, sich zum Erdinneren durchzugraben. Der Wahnsinn steigerte sich weiter, und langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Bar jeglicher Vernunft und völlig unkontrolliert schrie das 200-Kilo-Marzipanschweinchen weiter über den Spielplatz, dass selbst die Rückenlehne meiner Holzbank vibrierte: «Cedrick, wenn du jetzt nicht nach die Mama kommst, kommen ganz böse Onkels und klauen dich!»
Mittlerweile war Philipp von diesem infernalischen Endzeitlärm wach geworden, heulte sich vor Angst die Augen aus dem Kopf und war nicht mehr zu beruhigen. Ich sah die Panik in seinen unschuldigen Augen. Bevor das fleischige Nebelhorn erneut Luft holen konnte, brüllte ich zurück: «Ruhe! Ruhe, verdammt noch mal! Halt die Klappe! Wer soll den dicken Brummer denn klauen? Die Russenmafia mit ’nem Tieflader oder was?»
Wütend stapfte ich zur Sandkiste, schnappte die baggernde Wanderdüne und drückte sie seiner verdutzten Mama in den Arm. Mit einem herzlichen, aber resoluten «So, und jetzt ab nach Hause, ihr Süßen!» verabschiedete ich mich und schickte die beiden Kalorienbunker in die wohlverdiente Kaffeepause. Wenn man nicht alles selber macht. Als ich schnell zu Philipp laufen wollte, um ihn zu beruhigen, stellte ich zu meiner Verwunderung fest, dass er schon munter mit einem andern Kind in Cedricks Mondkrater spielte. Neben der Sandkiste stand eine gutgelaunte Mutter und lachte mich an. «Na, Herr Schröder? Das war wohl ein bisschen viel für dich, was? Erst wirst du beim Lesen gestört – und dann sieht sie noch nicht mal gut aus.»
Ich war überrascht und grinste dämlich, um Zeit zu gewinnen. Wer war diese aparte und gutgelaunte Person? Kannte ich sie? Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern. Ich schoss erst mal nebulös ins Blaue: «Ach hallöchen, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen – seit wann hast du denn ein Kind?»
«Tja, dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen! Und Atze – tu bitte nicht so, als wüsstest du, wer ich bin!»
Natürlich wusste ich nicht, wer diese Person war. Leider, denn sie sah echt gut aus. Sie genoss offensichtlich meine Unwissenheit und erlöste mich mit einem spöttischen Lächeln: «Martina Becker, ich hab damals im ‹Old Daddy› gekellnert.»
Oh Gott, Martina Becker aus dem «Old Daddy». Die heilige Martina, die Königin der Theke! Die Mona Lisa des Zapfhahns, von allen nur Tina genannt! Ich konnte es nicht glauben.
Tina Becker war damals schlicht und ergreifend der heißeste Feger westlich von Santa Fe. Wir haben es alle bei ihr versucht. ALLE. Ich kenne Männer, die Alkoholiker geworden sind, nur weil sie bei Tina immer wieder ein Pils bestellen mussten. Tina sah immer rattenscharf aus, hatte immer Bombenlaune und war zu jedem nett und freundlich. Sie hatte einfach diese außergewöhnliche Klasse. In diesem Drecksloch von Rockdisco war sie wie die Madonna leibhaftig. Aber sosehr sich auch alle bemühten, keiner konnte bei ihr landen. Bis André kam. André Siebert.
André Siebert war für uns Coole eine Person, die eigentlich gar nicht existierte. In der Schule
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