Und dann kam Ute (German Edition)
raste. Von Panik ergriffen zog ich die alte Seca-Waage aus dem Badezimmerschrank. Sorgfältig kontrollierte und justierte ich die Nullstellung. Ich atmete tief aus und betrat mit Herzklopfen das lauernde Wiegeplateau. Federnd drehte der Skalenkreisel seine unbarmherzige Runde und pendelte sich bei absurden und völlig aus der Luft gegriffenen 83 Kilo ein. Ich bebte vor Wut. Obacht, Schröder, nicht durchdrehen! Gefühle behindern die Logik. Ich atmete tief ein und aus, bis sich mein Puls beruhigte und ich wieder alles unter Kontrolle hatte. Jetzt hieß es: kühlen Kopf bewahren. Augenblicklich kehrte der scharfsinnige, nüchterne Analytiker in mir zurück und brachte die Dinge wissenschaftlich präzise auf den Punkt. Ich wog seit fünfzehn Jahren 73 Kilo. Da konntest du jeden hier fragen. Warum zeigte also diese dämliche Waage zu viele Kilos an? Ich starrte den seelenlosen Feind auf dem Boden wie hypnotisiert an. Und dann hatte ich den Fehler! Na bitte, die Waage stand ja auch auf der Badematte … und außerdem trug ich noch die Badehose! Ich Dummerchen! Der Teufel ist ein Eichhörnchen und steckt im Detail.
Erleichtert klappte ich die Badematte zur Seite, entledigte mich der Badehose und stapfte kopfschüttelnd über meine eigene Dusseligkeit erneut auf die Waage. Na also: 84,5 Kilo. Oh Gott, schnell die Matte wieder drunter. 83,5! Es war zum Verrücktwerden. Diese Waage wusste doch selber nicht, was sie wollte. Doch halt! Meine Haare waren ja auch noch ganz nass. Das macht natürlich ’ne Menge aus. Ich föhnte wie ein Besessener Volumen und Spannkraft aus meinem tonnenschweren Haupthaar. Vor dem nächsten Wiegen ging ich schnell noch auf die Toilette. Dabei fiel mein Blick auf die viel zu langen Fußnägel. Damit ist nicht zu spaßen. Okay, der Einwand ist berechtigt: Was wiegt schon so ein Nagel? Aber bei zehn harten Männer-Horntafeln kommen schnell mal ein paar Kilo zusammen. Also runter mit den Dingern. So! Endlich war ich bereit für das exakte Erreichen der 73-Kilo-Marke. Scheinbar unbeteiligt betrat ich die Waage und stützte mich dabei vorsichtig mit einer Hand am Waschbecken ab. Na endlich: 76,2! Abzüglich drei Prozent Toleranz … macht 73,9 Kilo. Sag ich doch: 73 seit fünfzehn Jahren. Trotzdem spürte ich ein leichtes Unbehagen über die unglückliche Verteilung meiner Muskeln. Anscheinend waren meine Beine in den letzten Monaten ein wenig nach hinten gerückt, anders war diese kleine Kugel in der Körpermitte nicht zu erklären.
Na gut, vielleicht hab ich doch ein bisschen zugelegt – aber Männer, die in meinem Alter noch mit einem Sixpack rumlaufen, haben doch nur ein Problem mit dem Älterwerden und machen sich lächerlich. Außerdem hat Professor Doktor Mang vor drei Jahren bei RTL «Exclusiv» gesagt, dass er ein paar Pfündchen zu viel gar nicht schlecht findet. Na bitte, da haben wir es doch.
Vielleicht lag es auch an dem ungünstigen Schnitt meiner alten 76er Speedo. Das konnte ich nicht akzeptieren: Ich lass mir doch nicht von so einer verchlorten Plastikbadehose meinen respektablen Astralkörper madig machen. Also ab zu «Karstadt Sport», um eine neue, topmodische Badehose zu kaufen.
Ich bog mit meinem Boliden in die Tiefgarage von «Karstadt» Essen und dachte bei mir: Was sind manche Menschen doch ewig gestrig. Hängen an alten Klamotten, hören nur alte Musik und trauern den alten Zeiten nach. Retro, wo du hinsiehst. Stillstand. Gefangen in der Vergangenheit und der Erinnerung an die ach so gute alte Zeit. «Dallas», «deutscher Schlager der 70er», «Rolling Stones», «Rudi Carrell» – was ’ne Scheiße. Es war nicht alles schlecht damals, aber vieles. Ja, sicher saßen bei «Am laufenden Band» 26 Millionen vor der Flimmerkiste! Aber es gab ja auch nichts anderes. In der DDR wurden sie auch alle mit 90 Prozent wiedergewählt. Aber was soll’s? Jedem Tierchen sein Retro-Pläsierchen. Ich jedenfalls bin ein Mann, der nach vorne schaut und sich unerschrocken dem geistigen, kulturellen und technischen Fortschritt verschrieben hat.
Als ich im vierten Stock auf der Rolltreppe stand, ließ ich meinen wissenden Blick umherschweifen. Das Weiße meines rechten Auges streifte eine dubiose Gestalt auf der Rolltreppe gegenüber. Dieser unsympathische, leicht schmerbäuchige Endvierziger starrte mich unter seinem Old-School-Minipli unverschämt feist an. Der alberne Prollo sah mit seiner getönten Brille aus, als wäre er gerade einem 70er-Jahre-Softporno
Weitere Kostenlose Bücher