und das geheimnisvolle Erbe
vertreten werden.
Ich hoffe, du zürnst mir und Beth nicht zu sehr, dass wir dir dies alles so lange vorenthalten haben.
Ich weiß, dass der Gedanke, so aus der Ferne beobachtet worden zu sein, deinem Unabhängigkeits-drang widerstrebt, aber ich versichere dir, es geschah mit viel Achtung und mit noch mehr Liebe.
Deine Dimity Westwood
Ich sah von dem Brief auf und starrte blind in das Zimmer, während sich die Bilder, die Dimitys Worte hervorriefen, wie fallender Schnee auf mich senkten. Es war schwer zu akzeptieren, dass eine Frau, die ich nie gekannt hatte, so viel über mich wusste, aber ich zweifelte nicht länger an ihrer Existenz. Sie wusste zu viel, um ein Hirngespinst zu sein.
Meine Mutter war während des Krieges in London gewesen, und sie hatte zuletzt in Eisenhowers Büro gearbeitet. In dieser Zeit war sie eine unermüdliche Entdeckerin dieser vom Krieg heimge-suchten Stadt gewesen: Sie hatte mir von der Tate Gallery erzählt, deren Fenster mit schwarzem Tuch verhängt waren, vom Brand der St.-Paul’s-Kathedrale und von den Straßen, die voller Bom-bentrichter waren. Während dieser Zeit hatte sie meinen Vater kennen gelernt. Aber von dieser anderen wichtigen Bekanntschaft hatte sie mir nie etwas erzählt, ebenso wenig wie von der vierzigjährigen Freundschaft, die daraus entstanden war.
Während all das mir durch den Kopf ging, erinnerte ich mich jedoch wieder an ein Familienritual, die so genannte Ruhezeit.
Die Ruhezeit kam gleich nach dem Abendessen, wenn meine Mutter in ihr Zimmer ging, während ich und Reginald in ein Märchenbuch vertieft waren oder uns anderweitig still beschäftigten. Wenn sie aus ihrem Zimmer kam, sah sie meist so frisch und erholt aus, dass ich immer angenommen hatte, sie hätte ein Nickerchen gemacht. Da ich ein sehr lebhaftes – um nicht zu sagen, wildes – Kind war, wäre das nicht weiter überraschend gewesen.
Jetzt aber schien es, als ob hinter der verschlosse-nen Tür neue Seelenkräfte gesammelt würden. Ich legte Dimitys Brief neben mich auf das Sofa und griff nach dem bräunlichen Umschlag. Beim Anblick der vertrauten Schrift sah ich meine Mutter wieder an ihrem Schreibtisch, sich über die Seiten beugend, wie sie sich über so viele andere gebeugt hatte, und nach einigen tiefen Atemzügen öffnete ich den Umschlag.
Etwas fiel heraus. Es war ein Foto, eine sehr alte Aufnahme, etwas fleckig, die Ecken umgebogen, eine fehlte ganz. Es war eine Landschaftsaufnahme, weiter nichts Besonderes, soweit ich sehen konnte: eine mit Gras bewachsene Lichtung, im Vorder-grund ein knorriger, alter Baum, dahinter ein Tal und in der Ferne einige Hügel. Es war kein Ort, wo ich jemals gewesen war, nichts, das ich erkannte, und weiter war nichts auf dem Bild: keine Menschen, keine Tiere und keinerlei Gebäude. Verwundert legte ich das Bild beiseite und entfaltete den Brief meiner Mutter.
Liebling,
okay, Sarah Bernhardt, jetzt reicht es, trockne deine Augen und putz dir die Nase. Die tragische Szene ist vorbei.
Ich weiß, was du jetzt denkst, ich weiß es so gut, als ob ich neben dir säße und dich sehen könnte.
Du hast deine Gefühle nie sehr gut verbergen können, weder vor mir noch vor dem Rest der Welt.
Das war immer eine deiner liebenswertesten Seiten, die mich aber auch oft zur Verzweiflung bringen konnten. Deine Gedanken stehen dir ins Gesicht geschrieben, und im Moment weiß ich, dass du TRAURIG bist.
Du denkst, dass Dimity und ich dir einen ziemlich miesen Streich gespielt haben, und ich kann es dir nicht verdenken, denn in gewisser Weise hast du Recht. Aber sieh es mal von dieser Seite an: Wenn ich es dir erzählt hätte, dann wüsstest du schon alles, und ich wäre tot und das wär’s. So aber bin ich zwar tot, aber du erfährst noch immer eine Menge über mich – die Geschichte geht weiter, sozusagen. Mir gefällt dieser Gedanke. Und ich denke, dir wird er auch gefallen, wenn du erst aufgehört hast, Trübsal zu blasen und dir Leid zu tun.
Wahrscheinlich fragst du dich, was es mit dem Bild auf sich hat. Das frage ich mich auch, und darum gebe ich es dir. Die Sache ist ernst, deshalb musst du jetzt gut aufpassen. Das ist keine Geschichte, die ich Reginald erzählen kann.
Dimity sagte, dass sie dir erzählen würde, wie wir uns kennen gelernt haben, und ich bin sicher, sie hat es getan. Genauso sicher bin ich, dass sie dir nichts davon erzählt hat, in welcher Verfassung sie an jenem Tag war, als sie in den Zoo ging. Um ganz ehrlich zu sein: Sie war ein
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