Und das Glück ist anderswo
hergestellt wurden. Gerade in seinem zweiten Leben als Buchhalter in einem Betrieb, der im Osten Londons Fisch verarbeitete, hielt er Leder für den Stoff, der ihn geprägt hatte. Sein Sinn für Ästhetik und sein Interesse für Bilder galten im Freundes- und Kollegenkreis als ungewöhnlich für einen früh entwurzelten Kaufmann. Seine Begabung für Sprachen lag indes weit unter dem Niveau, das bei Emigranten üblich war. Die fast dreißig Jahre, die er nun in London lebte, hatten Samy nicht gereicht, so gut Englisch zu lernen, dass sich die selige Mrs Bronstein sich nicht seiner schämte. Obwohl man ihm in seiner Heimatstadt alles genommen hatte außer dem Leben, hatte der einstige Offenbacher Bub immer noch Sehnsucht nach seinen Ursprüngen. Nur so war erklärbar, dass er Englisch mit hessischem Tonfall und entsprechendem Akzent sprach und bei einem der wenigen Ausflüge, die er mit seiner Miriam während der Ehe unternahm, trüben Sinnes in die Themse starrte und seufzend klagte: »Der Main wäre mir lieber.«
Zu seiner Freude lachte Martha Freund herzhaft über diese Geschichte, als er sie ihr bei einem der Nachmittage im Hause der Grazer Zahnarztwitwe erzählte. Es war eine besonders gelungene Veranstaltung gewesen, an die er sich durch die hoch geschätzte Reaktion von Martha Freund besonders gern erinnerte. Ausnahmsweise hatte es keine Sachertorte gegeben. Stattdessen hatten die teilnehmenden Damen Kuchen gebacken, die Herren für die Getränke gesorgt. Eine ehemalige Oberstudienrätin, die seit dreißig Jahren in Hendon lebte und die stets glaubhaft versichert hatte, sie esse nichts lieber als das englische Teegebäck mit Schokoladenfüllung und grünem Zuckerguss, hatte Zwetschenkuchen gebacken. Die Backkünstlerin, die in der ersten Zeit ihrer Emigration mit diesem Talent sogar ihren Lebensunterhalt bestritten hatte, war eine gebürtige Frankfurterin.
Samy Bronstein, der neben Frau Freund saß, die er erst zum zweiten Mal traf, hatte plötzlich Tränen in den Augen gehabt und gesagt: »Mein Gott, der Zwetschekuche schmeckt ja ganz lebendig.« Das war der Auftakt zu einem langen, unerwarteten und gerade einen Witwer animierenden Gespräch gewesen. Mrs Freund, von der Samy fand, dass sie mit ihren dunklen Augen und farblich dazupassendem Teint wirklich apart aussah, und dies nicht nur für ihr Alter, hatte ihm, auch äußerst angeregt von Zwet-schenkuchen und von der Bäckerei ihres Mannes in Cham erzählt und wie sie in Kenia gelernt hatte, Brot aus Mais zu backen, das nur ganz wenig nach Mais schmeckte.
»Ich habe überhaupt das meiste in meinem Leben gelernt, nachdem ich von zu Hause wegmusste«, war ihr beim Erzählen aufgegangen. »Und dabei denkt man als Kind doch immer, man hat ausgelernt, wenn man mit der Schule fertig ist.«
»Das kenne ich«, nickte Bronstein Bestätigung. Marthas Lächeln gefiel ihm, noch mehr, dass sie »zu Hause« gesagt und Cham gemeint hatte. Nachdenklich lauschte er in das Stimmengewirr hinein, diese kuriose Mischung aus schlechtem Englisch und verlegen aus dem Gedächtnis geförderten deutschen Brocken. Kaum ein Emigrant kam noch auf die Idee, von seiner deutschen Geburtsstadt als Heimat zu sprechen. Und wäre den anderen in diesem Kreis ein solch unpopulärer Einfall gekommen, hätten sie sich nicht getraut, solche Sehnsüchte vor Menschen zuzugeben, die alle an Deutschland gelitten hatten. Samy Bron-stein war jedoch immer ein Querdenker gewesen, einer, der nicht einsah, weshalb er zum Verlust der Heimat auch noch den Verlust der Persönlichkeit hinnehmen sollte. »Cham«, sagte er animiert. Es tat ihm Leid, dass sein Wissen von Bayern sich auf Bier, Leberkäse und nackte Männerwaden beschränkte. Dass er besonders gut gelaunt war, machte er dennoch deutlich. Wenn ihm etwas an seinem Dasein als Witwer gefiel, dann der Umstand, dass er nur noch auf seine Katze und ihre Aversion gegen englische Würstchen Rücksicht nehmen musste.
»Mögen Sie Katzen?«, fragte er.
»Warum fragen Sie?«
»Beantworten Sie eine Frage immer mit einer Gegenfrage?« »Tue ich das?«
Beide prusteten im gleichen Moment los, als hätten sie den schönen alten Witz zum ersten Mal gehört - Bronstein konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so heiter gewesen war. Jedenfalls nicht auf der Hochzeit seiner Tochter. Im Laufe der folgenden beiden Stunden erwischte er sich dabei, dass er Details aus seinem Leben preisgab, die er sonst unter der Bonhomie und dem Humor verscharrte, für die er in
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