Und das Leben geht doch weiter
sie.
Natürlich war Carola überrascht.
»Sie kennen mich?«
»Ja.«
»Woher?«
»Von Ihrem Vater.«
»Wer sind Sie?« fragte Carola zum zweitenmal.
»Ihr Vater«, antwortete die Dame, »war bei mir und hat mir sein Leid geklagt. Welches Leid das war, können Sie sich denken.«
Carola ärgerte sich sichtlich. Sie lief rot an.
»Denken kann ich mir schon, daß er betrübt ist. Daß er bei Außenstehenden herumtratscht, hätte ich bis jetzt allerdings nicht gedacht.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, halten Sie mich also für eine Außenstehende?«
»Sicher. Sie sagen mir ja auch nicht, wer Sie sind.«
»Wie wenig Ihr Vater eine Außenstehende in mir gesehen hat, beweist die Tatsache, daß er mich sogar den Brief, den Sie Ihren Eltern hinterlassen haben, lesen ließ.«
»Wie geschmacklos!«
»Geschmacklos finden Sie das? Ein Ausdruck der Etikette, nicht wahr? Haben Sie sich eigentlich schon einmal in die Verfassung Ihres Vaters hineingedacht? Oder in die Ihrer Mutter?«
»Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel!« stieß Carola sichtlich betroffen hervor.
»Nein, das tue ich nicht«, sagte die Dame unerbittlich. »Stellen Sie sich vor, in die Ehe Ihrer Eltern hätte sich eines Tages ein junges Mädchen hineingedrängt. Ihre Mutter, alt, reizlos, verbraucht …«
»Ich verbiete Ihnen, so von meiner Mutter zu sprechen! Sie ist weder reizlos noch verbraucht!« fauchte Carola. »Sie kann sich jederzeit mit Ihnen messen!«
»Aber nicht mehr mit Ihnen –?«
Vorübergehend entstand betroffene Stille. Ein Nagel war auf den Kopf getroffen worden. Der Triumph der Jugend war angesprochen worden, gegen den in diesem Zusammenhang auch und gerade von Gertrud Burghardts eigener Tochter nichts vorgebracht werden konnte.
Die Unbekannte ließ nicht locker. Sie war eine reife Schönheit, und es stimmte nicht, daß sich Carolas Mutter mit ihr hätte messen können, denn bei dieser hatten sich im Verhältnis Reife/Schönheit die Gewichte schon sehr zugunsten der Reife verschoben. Daß Carola das nicht gelten lassen wollte, sprach nur für sie.
»Stellen Sie sich vor, sagte ich«, fuhr die Unbekannte fort, »Ihre Mutter hätte sich eines Tages in Ihrer Ehe der Konkurrenz eines jungen Mädchens ausgesetzt gesehen. Ihr Vater hätte den Verstand verloren, und Ihre Mutter wäre dadurch Gefahr gelaufen, abserviert zu werden …«
»Nein, nicht von meinem Vater!« rief Carola. »Er mag andere Fehler zur Genüge haben – aber bestimmt nicht den!«
»Jedenfalls hätte er – Sie sollen sich das ja nur vorstellen – beruflich ohne weiteres Gelegenheit gehabt, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, sagen wir: ans Meer, und zu warten, bis ihm seine Lolita nachgefahren käme.«
Die Dame legte eine kurze Pause ein, in der Hoffnung, der Name Lolita, den sie genannt hatte, würde bei Carola seine Wirkung nicht verfehlen: Lolita, das minderjährige Mädchen, ein Kind fast noch, die Titelfigur des berühmten Romans von Nabokov, der Inbegriff des Nymphchens, dem ein alternder Mann verfällt.
Carola verriet aber mit keiner Wimper, daß sie das Buch kannte. Etwas anderes hatte angefangen, in ihr zu bohren: eine gewisse Parallelität.
Die Dame zündete sich eine zweite Zigarette an.
»Ihr Vater, sagten Sie«, fuhr sie dann fort, »würde das nicht tun?«
»Nein.«
»Aber wenn er's dennoch täte, was würden Sie dann von ihm halten?«
Carola wollte auf diese Frage nicht antworten.
»Oder was würden Sie von einem Mädchen halten, dem Ihre Mutter ihre Abdankung zuzuschreiben hätte? Sie lieben doch Ihre Mutter?«
»Worauf«, entgegnete nun Carola, »wollen Sie eigentlich hinaus? Wer sind Sie? Ich will das jetzt endlich wissen.«
»Denken Sie mal nach, dann kommen Sie von selbst darauf. Sie sind doch ein hochintelligentes Mädchen. Ich kann das beurteilen, ich war früher Gymnasiallehrerin.«
Zögernd erwiderte Carola: »Wenn ich nachdenke … könnte ich zu dem verrückten Schluß kommen … daß Sie …«
Sie verstummte.
»Daß ich was?« fragte die Dame.
»Daß Sie … Detlev Padenbergs Frau sind.«
Carola starrte, innerlich bebend, die Dame an, von deren Antwort ihr Leben abhing. Die Dame zog zweimal an ihrer Zigarette, ehe sie erwiderte: »Dieser Schluß schiene Ihnen verrückt, sagen Sie?«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich weiß, daß Detlev Padenberg nicht verheiratet ist.«
Wieder ein Zug aus der Zigarette.
»Von wem wissen Sie das?«
»Von ihm.«
»Hat er Ihnen das gesagt, daß er nicht verheiratet ist?«
»Ja,
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