Und dennoch ist es Liebe
gesagt, ich müsse nüchtern sein, und außerdem reichte allein das Wissen, hier zu sein, dass meine Glieder sich anfühlten, als seien sie aus Blei. Langsam und vorsichtig ging ich Jake hinterher, als müsse ich etwas beschützen, und setzte mich auf die Schaukel neben ihn. Er schaukelte, so hoch er konnte, und das ganze Gerüst bebte und zitterte, als würde es gleich einstürzen. Jakes Füße streiften die niedrig hängenden grauen Wolken, und er trat nach ihnen. Dann, als er höher war, als ich für möglich gehalten hätte, sprang er hoch in der Luft von der Schaukel, krümmte den Rücken und landete im Sand. »Jetzt bist du dran«, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf. Ich wünschte mir seine Energie. Gott, ich wollte das endlich hinter mir haben und tun, was Jake gerade getan hatte. »Schubs mich an«, forderte ich ihn auf, und Jake stellte sich hinter mich und schubste mich an, so kräftig, dass ich kurz quer in der Luft hing, mich an die Ketten klammerte und in die Sonne starrte. Und bevor ich michs versah, war ich wieder auf dem Weg nach unten.
Jake hangelte sich auf das Klettergerüst, ließ sich kopfüber von einer Querstange hängen und kratzte sich unter den Achseln. Dann setzte er mich auf das kleine Karussell. »Halt dich fest«, sagte er. Ich presste mein Gesicht gegen das glatte, grün gestrichene Holz und spürte die warme Farbe auf meiner Wange. Immer schneller drehte Jake das Karussell. Ich hob den Kopf, doch die Fliehkraft zerrte an meinem Hals, und ich lachte. Mir war schwindelig, und ich suchte Jakes Gesicht. Aber ich konnte nichts erkennen; also drückte ich mich wieder ans Holz. In meinem Kopf drehte sich alles, ich konnte oben und unten nicht mehr voneinander unterscheiden. Dann hörte ich Jakes angestrengtes Atmen, und ich lachte so laut, dass ich die feine Linie überschritt und in Tränen ausbrach.
*
Ich spürte nichts außer dem heißen Licht in dem sterilen weißen Raum, den kühlen Händen einer Krankenschwester und dem dumpfen Zerren und Saugen der Instrumente. Im Nachbehandlungszimmer gab man mir ein paar Pillen, und ich döste vor mich hin. Als ich wieder aufwachte, stand eine hübsche, junge Krankenschwester neben mir. »Sind Sie in Begleitung von jemandem hier? Ihrem Freund vielleicht?«, fragte sie. Mein Freund? , dachte ich. Ja, wenn er das noch ist …
Jake kam erst sehr viel später zu mir. Er sagte kein Wort. Er bückte sich einfach und küsste mich auf die Stirn, so wie er es immer getan hatte, bevor wir ein Liebespaar geworden waren. »Bist du okay?«, fragte er.
Und in dem Augenblick, als er das sagte, da sah ich es: das Bild eines Kindes, das direkt über seiner Schulter schwebte. Ich sah es so klar und deutlich wie Jakes Gesicht. Und an dem Sturm in seinen Augen erkannte ich, dass er das Gleiche bei mir sah. »Es geht mir gut«, antwortete ich, und in diesem Moment wusste ich, dass ich weggehen musste.
Als wir wieder bei mir zu Hause ankamen, war mein Vater noch nicht daheim. So hatten wir es geplant. Jake half mir ins Bett, setzte sich auf die Tagesdecke und hielt meine Hand. »Ich sehe dich dann morgen«, sagte er, machte aber keinerlei Anstalten zu gehen.
Jake und ich hatten schon immer wortlos miteinander kommuniziert. Ich wusste, dass auch er es in der Stille hören konnte: Wir würden uns morgen nicht wiedersehen. Wir würden uns niemals wiedersehen. Und wir würden nicht heiraten und keine gemeinsamen Kinder haben, denn jedes Mal, wenn wir einander ansahen, würde uns die Erinnerung an den heutigen Tag heimsuchen. »Ja, morgen«, erwiderte ich, doch das Sprechen fiel mir schwer. Ich hatte einen Kloß im Hals.
Ich wusste, dass Gott irgendwo lachte. Er hatte die eine Hälfte meines Herzens genommen, den einen Menschen, der mich besser kannte als ich mich selbst. So hatte er etwas getan, was ansonsten unmöglich gewesen wäre. Indem er uns zusammengebracht hatte, hatte er das Eine in Gang gesetzt, was uns für immer auseinanderbringen sollte. Das war der Tag, an dem ich meinen Glauben verlor. Ich wusste, dass ich nicht mehr in den Gnadenstand zurückkehren konnte. Der Himmel war mir auf ewig versperrt. Falls es wirklich eine Wiederkehr gab, dann würde Christus für meine Sünden kein zweites Mal sterben. Doch im Vergleich zu dem, was ich durchgemacht hatte, wirkte das plötzlich gar nicht mal so schlimm.
Noch während Jake meinen Arm streichelte und mir Versprechen machte, von denen er wusste, dass er sie nicht halten konnte, nahm ein Plan in meinem Kopf
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