und der Herr der Loewen
er ist ein Einsiedler, der nie hinter seinem Bretterzaun hervorkommt.«
»Wer?« fragte Kadi und drehte sich um.
»Der Mann, der mir das Fahrrad verkauft hat. Er stand gerade vor dem Fenster und starrte uns an.«
Kadi lachte. »Irgendwann muß er doch wohl herauskommen, um einzukaufen.«
Aber an seinem Blick und dessen Intensität war etwas Beunruhigendes gewesen. Er hat uns beobachtet, dachte Mrs. Pollifax, aber ohne Lächeln, ohne Gruß. Sie fragte sich, wie lange er wohl schon dort gestanden hatte. Was soll's? Sie zuckte die Schultern, trank ihr Glas aus und fragte lächelnd: »Also, als nächstes Esau Matoka?«
»O ja«, erwiderte Kadi eifrig. Sie traten wieder in die Sonne hinaus, überquerten den Boulevard und begannen Ausschau nach der Seitenstraße zu halten, in der Kadis Freund wohnte.
Sie erwies sich als ungepflasterter, von Bäumen beschatteter Weg, mit Zäunen zu beiden Seiten, hinter denen Hühner in der Erde scharrten. Die Häuser hier waren aus festen Betonblöcken erbaut und hatten Blechdächer. »Ein Luxus!« Kadi deutete auf die Dächer.
»Die sind teuer!« Mrs. Pollifax war überzeugt, daß selbst sie Matokos Haus ohne Hilfe erkannt hätte, denn das Tor wurde links und rechts von kunstvoll geschnitzten Pfosten geziert, und in der Gartenmitte erhob sich eine hohe, abstrakte Pyramide aus Metall und Steinen. Das Haus war blaßblau gestrichen, und in gut gepflegten Beeten wuchsen prächtige Blumen in vielen Farben. Es war unübersehbar, daß hier ein Künstler wohnte.
Kadi öffnete die niedrige Gartentür. »Er arbeitet hinter dem Haus, aber ich werde trotzdem läuten.« Die Glocke hing an einem Strang neben der Tür. Als Kadi an dem Strang zog und die Glocke zum erstenmal läutete, ertönte simultan ein dünner Schrei. Mrs. Pollifax dachte erstaunt: Wie makaber, eine Glocke, die wie ein Schrei klingt! Nun, Künstler haben ihre Marotten. Doch da brachte Kadi die Glocke zum Verstummen.
Sie lauschte. Nun zerriß ein zweiter, schriller Schrei die plötzliche Stille. Es war ein Schreckens-und Schmerzensschrei zugleich. Wortlos rannte Kadi los - rannte um das Haus herum zur Rückseite, und Mrs. Pollifax lief mit vor Angst heftig pochendem Herzen hinter ihr her. Er lag im Staub des Weges hinter dem Haus. Eine Hand umklammerte eine winzige Schnitzerei, der andere Arm lag seitlich ausgestreckt auf der Erde. Es war ein schlanker Mann, dessen graues Hemd am Rücken in Fetzen gerissen war. Aus seinem Nacken sickerte Blut in die Hemdfetzen und bildete seltsame, verworrene Muster. Jetzt war es Kadi, die gellend schrie. Mrs. Pollifax riß sie herum und befahl: »Schau weg! Schau weg!«
»Aber es ist Esau!« schluchzte das Mädchen. »Es ist Esau!«
»Lauf und hol Hilfe!« befahl Mrs. Pollifax nun. »Schnell, Kadi, lauf!« Es war das einzige, was sie tun konnte, um zu verhindern, daß Kadi die reglose, blutige Gestalt umdrehte.
»Schnell!« drängte sie.
Schluchzend gehorchte Kadi und rief im Laufen: »Hilfe! So helft doch!«
Mrs. Pollifax kniete sich neben den Mann und betrachtete, was sie sehen konnte, ohne ihn zu berühren: Die Spuren von Krallen auf seiner rechten Wange, die furchtbaren Wunden an Rücken und Nacken. Sie hoffte, daß er noch lebte, bezweifelte es jedoch, sein Mund blieb in einem stummen Schrei aufgerissen. Sie tastete nach ihrem Taschenspiegel und hielt ihn schräg und so gut es eben ging, an seinen Mund, aber er beschlug sich nicht. Offenbar atmete der Bedauernswerte nicht mehr. Er würde auf den Rücken gedreht und näher untersucht werden müssen. Sie fragte sich, ob sie das tun sollte. Sie wußte, daß die Polizei in Amerika es nicht gern sah, wenn ein Verwundeter berührt wurde, aber unter diesen Umständen... Die Sonne brannte heiß, und der Staub, der bei seinem Sturz auf den Boden aufgewirbelt worden war, hatte sich noch nicht einmal ganz gelegt. Esau Matoka mußte zu dem Zeitpunkt überfallen worden sein, als sie und Kadi sich dem Anwesen genä hert hatten. Und das wiederum bedeutete, daß der Mörder noch nicht weit gelangt sein konnte. Warum kommt niemand zu Hilfe? fragte sie sich verärgert. Hat hier denn niemand ein Telefon?
Fliegenschwärme drängten sich auf Esaus blutigen Wunden und sie versche uchte sie.
Während sie sich umschaute, beruhigte sie sich so weit, daß sie Überlegungen anstellen und Einzelheiten der Umgebung bewußt wahrnehmen konnte. Hier, hinter dem Haus, etwa drei Meter von ihr entfernt, stand Esaus Werkstatt, von der drei der geflochtenen Wände
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