und der verschwiegene Verdacht
hinauf und fuhr mit der Hand über die Oberfläche des Fensters. »Sehen Sie? Keine Unebenheiten, keine Kratzer, keine Zeichen von Verwitterung irgendwelcher Art. Selbst die Bleifassungen sind intakt.«
Emma lehnte sich wieder an die Mauer und runzelte die Stirn. »Also zeigt Graysons angeblich uraltes Fenster keinerlei Altersspuren?«
»Komisch, nicht wahr?«
»Genauso komisch, wie Penford Hall eine Ruine zu nennen.«
Dereks Gesicht leuchtete auf. »Nell hat Recht. Sie verstehen wirklich schnell. Ich kann es nicht erwarten, Ihnen die Gebäudegrundrisse zu zeigen. Lassen Sie uns gleich in die Bibliothek gehen.«
Seinen Arm schützend auf Emmas gelegt, führte Derek sie um den Kapellgarten herum auf die steinige Wiese, wo der Küstenpfad anfing. Der Duft des blühenden Ginsters lag schwer und süß in der klaren Luft. Auf den gegenüberliegenden Klippen sah Emma die Nester der Möwen und Austernfi-scher, deren Schreie von den zerklüfteten Felswänden widerhallten. Als sie den Pfad erreicht hatten, nahm Derek die Hand von ihrem Arm, und sie gingen nebeneinander weiter.
»Wie Grayson mir sagte«, bemerkte Derek, »sollte die ursprüngliche Laterne, also die tatsächliche Blendlaterne mit der Kerze und den Blechseiten, welche die junge Frau in der Legende benutzt hat, in der Kapelle stehen. Nach der Legende entzündet sich das verdammte Ding einmal alle hundert Jahre von selbst. Wenn das passiert, ist der Herzog von Penford verpflichtet, ein riesiges Fest für alle zu geben. Und wie ich gehört habe, wäre das dieses Jahr wieder fällig. Für die Dorfbewohner ist dieses Fest – tatsächlich nennen sie es ›Das Fest‹ – von großer historischer Bedeutung.«
Emma fiel ein, dass der Herzog sie gebeten hatte, den Kapellgarten bis zum ersten August fertig zu haben. Dann musste sie an den Sims unter dem Fenster der Kapelle denken. »Das Fest wird wohl im August fällig sein«, vermutete sie, »aber die Laterne fehlt, und ohne die kann Grayson ›Das Fest‹
nicht ausrichten.«
Derek war offenbar beeindruckt. »Genau. Aber behalten Sie das für sich, okay? Die Angestellten wissen zwar, dass die Laterne verschwunden ist, aber die Dorfbewohner wissen es nicht. Es würde sie äußerst beunruhigen.«
Emma stimmte zu, aber sie verstand die ganze Aufregung nicht so recht. »Warum lässt Grayson nicht einfach eine Kopie anfertigen?«
»Das kann ich Ihnen genau sagen. Als Grayson mit mir darüber redete, sprach er mit einer solchen Überzeugung, dass ich seine Worte immer noch höre.« Derek sah Emma durchdringend an. »Grayson sagte: ›Mein Junge, wahrscheinlich verstehst du das nicht, aber ich glaube an diese Legende. Wenn der Tag des Fests kommt, muss die Laterne leuchten.‹«
Emma zog die Augenbrauen hoch.
»Ja, genau«, sagte Derek. »Er hat mich nicht herkommen lassen, um ein vollkommen intaktes Fenster zu restaurieren, sondern weil er meine Schwäche für das Herumstöbern in alten Gemäuern kennt. Er möchte, dass ich die antike, sich selbst entzündende Laterne von Penford Hall suche.«
Als sie sich dem Haus näherten, überlegte Emma, wie sie ihre nächste Frage formulieren sollte. Grayson schien von einer beunruhigenden Entschlossenheit zu sein, alles zu glauben, was mit der Familienlegende zusammenhing. Ein uraltes Fenster, an dem die Zeit spurlos vorbeigegangen war, ein Umhang, der auf mysteriöse Weise die Farbe gewechselt hatte, eine Laterne, die sich von selbst entzündete.
Emma hatte schon oft von exzentrischen Engländern gehört, aber … »Also machen Sie sich Gedanken, ob der Herzog … äh … ob er noch ganz richtig im Kopf ist?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich befürchte noch Schlimmeres«, sagte Derek, aber er sagte nichts weiter, während sie durch eine Tür im Ostflügel und durch eine Flucht einsamer Korridore gingen. Schließlich kamen sie in der dunkel getäfelten Bibliothek an. Derek schritt durch den Raum und nahm eine große schwarze Leder-mappe von einem Lesepult, das neben der Treppe zur Galerie stand. Seine Stimme schien viel zu laut, als er in der leeren Bibliothek fortfuhr: »Grayson hat mir einen vollständigen Satz der Grundrisspläne gegeben«, erklärte er, »damit ich das Gebäude von oben bis unten durchsuchen kann.«
»Und haben Sie etwas gefunden?«, fragte Emma.
Derek legte die Mappe auf einen langen Tisch mit Einlegearbeiten, der hinter der Couch stand, dann deutete er auf das Porträt über dem Kamin. »Die Smaragde der Herzoginwitwe«, erwiderte er. »Und
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