Und der Wind bringt den Regen
dabei, ihre Blocknummern aufzuschreiben. Sie wich Mins eindringlichen Blicken aus. Min saß da, murmelte vor sich hin und fuhr mit der Hand über die Holzbank. Endlich kam ihre Haltestelle; sie stand rechtzeitig auf, aber die Bahn schwankte so, daß sie auf den Sitz zurückfiel. «He, Miss!» rief sie laut.
Die Schaffnerin blickte von ihren Zahlen auf und kam ihr eilig zu Hilfe. «Entschuldigen Sie, Kindchen», sagte Min. «Meine Beine, wissen Sie. Sie sind nicht mehr das, was sie mal waren.» Die Schaffnerin half ihr beim Aufstehen, und Min stützte sich fest auf sie, als sie zusammen durch den Wagen gingen. Ihr Mund war dicht am Ohr der Schaffnerin, die vor dem warmen übelriechenden Atem den Kopf abwandte. «Wer war denn die Glückliche?» flüsterte Großtante Min.
«Welche Glückliche?»
Sie hatten die Plattform erreicht, als die Bahn hielt. Min blickte auf die Stufe hinunter. «Sie müssen mir runterhelfen, Kindchen. Taffy Evans’ Glückliche, meine ich.»
Die Schaffnerin sprang auf die Straße und streckte ihr die Arme entgegen, um sie zu halten.
«Taffy Evans’ Glückliche», wiederholte Min etwas lauter.
«Ach so. Tom Dormans Witwe», sagte die kleine Schaffnerin. «Kommen Sie, kommen Sie, wir müssen weiter.»
Doch plötzlich war Großtante Min wieder Herr über ihre Gelenke. Sie sprang zu Boden. «Danke schön, Kindchen. Vielen Dank für alles.»
Die Schaffnerin war mit einem Satz wieder auf der Plattform und zog die Klingelschnur. Rasselnd und ächzend setzte sich die Bahn wieder in Bewegung. Großtante Min stand auf dem Gehweg, sah ihr nach und leckte sich die Lippen. Sie glich aufs Haar einem Hund, der sich soeben den saftigsten Knochen seines Lebens geholt hat.
Auch Großtante Mabel fuhr mit der Bahn nach Hause; aber sie fuhr bis zur Endstation, wo die Schaffner für Unterhaltungen keine Zeit hatten. Der Fahrer riß die Kurbel aus der Halterung, ging damit eilig ans andere Ende des Wagens, setzte sie dort wieder ein und machte sich bereit für die Fahrt in entgegengesetzter Richtung. Währenddessen nahm die Schaffnerin den Strombügel heraus und setzte ihn hinten unter Zischen und Funkensprühen wieder in die Oberleitung.
«Vorsichtig, Kindchen!» rief Mabel. «Sonst denkt der Kaiser, wir machen hier Feuerwerk für ihn.»
«Gute Nacht, Miss Carter», rief die Schaffnerin. «Und seien Sie schön brav, hören Sie?»
«Ich werd’s versuchen!» rief Mabel lachend zurück. Fröhlich summend kehrte sie der Stadt den Rücken und schlug einen schmalen Weg ein, der bald zu einem matschigen Trampelpfad voller Pfützen wurde. Mabels kleiner Hof lag in einer Moorgegend, wo es weder Glockenblumen noch Heidekraut gab, und auch keine blaue Ferne. Es war ein öder Landstrich am Rand der Stadt, ohne Bäume, mit verwahrlosten Anwesen und grobem Schilfgras, leeren Konservendosen und verrosteten Fahrrädern, tellerflach und ohne Gesicht.
Aber Mabel liebte den Platz. Sie liebte ihre Schweine und die Kohlköpfe und den Rosenkohl, der in langen Reihen stand, wie zerlumpte Soldaten; und natürlich liebte sie ihr windschiefes kleines Ziegelsteinhaus, das so gar nicht hierher in die Kargheit zwischen Stadt und Land paßte.
Sie stapfte weiter. Bald sah sie, wie sich ihr Haus schwarz gegen den dunklen Himmel abhob. In der Küche war ein schwaches Glimmen zu sehen, schwächer als das erste Tageslicht: eine Kerze, weit weg vom Fenster, schimmerte durch die Netzgardinen. Dieser verdammte Siegfried, dachte sie plötzlich gerührt und erfreut und belustigt, ein Leuchtsignal für seinen verrückten Kaiser.
Siegfried Braun war sehr erleichtert gewesen, als er gefangengenommen wurde. Er hielt nicht viel vom Schützengraben. Kanonen ängstigten ihn und Unteroffiziere auch. Und im Grunde seiner bayerischen Seele hatte er auch für den preußischen Wilhelm nicht allzuviel übrig.
Als er sich dann in einer Arbeitseinheit wiederfand, die den feindlichen Boden Englands beackern und bestellen sollte, war er selig. Er gehörte nicht zu den Klügsten. Preußen oder England — das war für ihn kein großer Unterschied: beide waren fremd und weit weg von seinen heimatlichen bayerischen Bergen.
Als der Lagerkommandant ihn dann auswählte und als Hilfsarbeiter auf den Hof einer Miss Mabel Carter schickte, betrachtete er das als besondere Ehre. Er wußte nicht, daß der Kommandant ihn für zu feige hielt, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Und sollte er es doch versuchen, würde er bestimmt nur bis zum nächsten Dorf
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