Und der Wind bringt den Regen
«Vergiß nicht: Draycott Street 5 a.»
«Nein, ich werd’s nicht vergessen», rief Benbow ihr nach. Nell kam und schloß die Tür.
«Die ist aber nett», sagte Benbow, als sie durch den Flur gingen. «Ich würde sie gern mal besuchen. Ich bin noch nie in einer Mietwohnung gewesen.»
Kommt nicht in Frage, dachte Nell zornig. Aber wie sollte sie einem Sechzehnjährigen die Schmach von damals erklären? Sie sagte: «Bevor du dir neue Freunde zulegst, solltest du dich erst einmal um die alten kümmern. Du gehst nirgendwo hin, bis du Tante Mabel besucht hast. Seit Jahren warst du nicht bei ihr, und sie ist immer so lieb zu dir gewesen.»
Da hatte sie recht, dachte er beschämt. Tante Mabel war wirklich immer so gut zu ihm gewesen. Er wollte sie bald besuchen — und auch Ulrike Wiedersehen. Aber zuallererst wollte er zu Tante Vanwy gehen — so hatte er es sich in den Kopf gesetzt.
Ein paar Tage später sagte er zu Nell: «Tante Vanwy hat doch gesagt, wir sollten sie besuchen.»
«Ich möchte sie nicht besuchen», sagte Nell ernst. «Ich will das nicht wieder anfangen.»
«Warum nicht?» Da war er wieder, der scharfe Ton, den seine Stimme jetzt manchmal annahm, wenn sie ihm widersprach oder ihm etwas verbot.
«Ach, das ist eine alte Geschichte.»
«Es war doch sehr nett von ihr, daß sie uns eingeladen hat. Ich fände es unhöflich, wenn wir —»
«Ich gehe nicht zu ihr, Benbow.»
«Aber ich gehe.» Er warf ihr einen finsteren Blick zu.
Sie hatten sonst nie Streit miteinander—jeder war für den anderen die ganze Welt. Sie hingen aneinander. Und nun...
«Ich weiß wirklich nicht, was du gegen sie hast», murrte er. «Ich finde sie furchtbar nett.»
«Und du kennst natürlich genug Frauen, um das beurteilen zu können.»
Was meinte sie damit? «Ich kenne sehr viele —dich, Tante Alice, Tante Edith, Oma...»
«Ich meinte es etwas anders», sagte sie mit einem kleinen fraulichen Lächeln, das ihn erbitterte.
«Und was hast du gemeint?»
«Vanwy läuft allem nach, was Hosen anhat. Das meine ich! Selbst Jungen in deinem Alter.»
Benbow war gekränkt. «So etwas zu sagen ist abscheulich», sagte er mit hochrotem Kopf. «Immerhin ist sie meine Tante!»
«Sie ist bloß eine Cousine von mir, das weißt du. Wenn du sie Tante nennst, ist das bloß Höflichkeit. Ich gehe jedenfalls nicht hin», schloß sie müde, «und wenn du vernünftig bist, gehst du auch nicht.»
Benbow schwieg. Er war nachdenklich geworden. Wie Tante Vanwy ihn damals geküßt hatte, das war tatsächlich etwas seltsam gewesen, wenn auch aufregend und schön. Mam hielt Tante Vanwy doch nicht etwa für eine Person ?
Er sagte nichts mehr, aber in seinem Innern hatte sich eine Tür geöffnet - die Tür zu einer Welt, in der es parfümierte und begehrenswerte Frauen gab. Am nächsten Tag machte er sich heimlich auf den Weg zur Draycott Street.
Nummer 5 a war eine Wohnung über einem Laden. Die Haustür unten stand offen. Mit trockenem Mund und klopfendem Herzen stieg er die steile Treppe hinauf.
Oben war eine Tür. Er klopfte.
Die Tür wurde aufgerissen, und Tante Vanwy stand vor ihm, im Morgenrock, aber trotzdem wunderschön. «Nanu, das ist ja Benbow!» Sie sagte es freundlich, aber ihr Gesicht wirkte angespannt und ihre Stimme klang gehetzt.
«Du hast gesagt... wir sollten dich mal besuchen», brachte er schließlich heraus. «Mam konnte nicht kommen. Da habe ich gedacht...»
«O du, das tut mir leid, Benbow. Es ist nämlich was passiert, verstehst du?»
«Ja, natürlich», sagte er und trat zurück. «Das macht doch nichts.»
Sie hielt ihn an einem Knopf seines Jacketts fest. «Hör zu. Sag deiner Mutter, daß er zurückgekommen ist. Gerade eben, vor einer halben Stunde. Deshalb -»
«Ja. Er ist zurückgekommen», wiederholte Benbow wie ein gelehriger Schüler.
«Ja, sag ihr das.» Sie hielt ihn immer noch am Knopf fest und starrte ihn an. Dann ging ein verstehendes Lächeln über ihr Gesicht. «Das ist aber nett von dir, daß du gekommen bist. Du kriegst auch noch einen Kuß von mir, ja, Benbow?» Sie zog ihn an sich heran, drückte schnell den leicht geöffneten Mund auf seine Lippen, gab ihm einen Klaps auf den Hintern und sagte: «So - das war’s, mein Herz. Und nun gehst du nach Hause und bestellst deiner Mutter, was ich gesagt habe.» Mit einem freundlichen Lächeln schloß sie hinter ihm die Tür. Benbow ging langsam nach unten. Er fühlte sich gedemütigt: sie hatte ihn wie einen Schuljungen
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