Und der Wind bringt den Regen
Will.»
«Ja, die beiden paßten gut zusammen», meinte Opa.
Nell ging ins Haus zurück. Ihr war etwas eingefallen.
In den Wochen und Monaten, als Benbow sich um das Stipendium bemühte, hatte Nell sich etwas vorgenommen: wenn Benbow es schaffte - er würde es natürlich nie schaffen, aber falls er es schaffen sollte -, dann wollte sie ihm zur Belohnung etwas schenken. Ein Fahrrad. Das war Benbows größter Wunsch. Und im Postamt war eines angezeigt, dessen Preis im Bereich ihrer finanziellen Möglichkeiten lag: «Knabenfahrrad, neuwertig, 1o Shilling. Albion Street 50.»
Nell nahm Hut und Mantel, steckte ihr Portemonnaie ein und machte sich auf den Weg.
Das Rad sah hübsch aus. Neuwertig war zwar übertrieben, aber es schien in Ordnung.
«Die hintere Bremse klemmt etwas», gab Nell zu bedenken.
«Das kann sein, aber vorn wär’s sehr viel schlimmer», meinte die Frau mit freundlichem Lächeln. «Da könnte der Junge glatt vornüberschießen.»
Das stimmte. «Wären Sie mit neun Shilling einverstanden?»
«Nein. Zehn.»
Nell gab ihr das Geld. Zitternd vor Aufregung schob sie das Rad nach Hause. Dort rieb und putzte sie es, bis alles glänzte, hievte es dann die schmale Treppe hinauf und stellte es an Benbows Bett. Ein Blick auf die Uhr: es war Zeit, ihm entgegenzugehen. Sie machte sich auf den Weg. Was für ein schöner Vormittag! Sie konnte es kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen.
Da kam er ja auch schon über die Eisenbahnbrücke! Er war in diesem Augenblick eine mächtige Lokomotive der Great Western Railway, ein Ungetüm aus Messing und Zischen und heißem Dampf. Den Abhang hinauf ging es nicht ganz leicht, aber er schaffte es und kam auf der anderen Seite mit gleichmäßig zischenden Kolben herunter. Für seine Mutter freilich war er immer noch der kleine Benbow, obwohl er inzwischen ein Stück größer und schlanker geworden war. Er lächelte neuerdings auch bereitwilliger und war nicht mehr ganz so zugeknöpft wie als kleiner Junge.
«Du hast das Stipendium bekommen, Benbow», rief sie glücklich lächelnd. «Hier, ich habe Weintrauben gekauft, zur Feier des Tages.»
Sie setzten sich auf das Brückengeländer und aßen die Trauben. «Verschluck bloß die Kerne nicht», warnte sie ihn. «Daran ist Edward VII. gestorben.»
Es war schön, hier in der Sonne zu sitzen und Weintrauben zu essen. «Und wann bin ich damit fertig?» fragte Benbow.
«Womit?»
«Mit der Realschule.»
«Da bleibst du so lange, wie du kannst», sagte sie. Aber als sie sein enttäuschtes Gesicht sah, ließ sie das Thema fallen und lenkte ihn ab. «Ich habe was Schönes für dich», sagte sie. «Weil du dich so angestrengt hast.»
«Noch was? Du hast doch schon die Trauben!» Er sprang vom Geländer herunter und sah sich um. «Wo ist es denn?»
«Zu Hause. Willst du es sehen?»
Er nickte, und sie zogen los.
Auch über einen Rolls-Royce hätte Benbow sich nicht mehr freuen können. Er war selig. Er trug das Rad hinunter auf die Straße und setzte sich auf den Sattel. Nell lief hinter ihm her und hielt das Fahrrad am Gepäckträger, bis es ihm gelang, sich im Gleichgewicht zu halten. Lachend japste sie nach Luft, und auch Benbow lachte, wenn er umfiel und wieder neu aufsteigen mußte. Als sie schließlich immer noch lachend und mit glühenden Gesichtern ins Haus schwankten, fast als hätten sie etwas getrunken, bedachten Oma und Opa ihre Schwiegertochter nur mit einem erstaunten Blick. Sie benahm sich wie ein Backfisch mit ihrem ersten Freund und nicht wie eine Mutter mit ihrem Sohn.
Die Realschule war in Benbows Augen ein gewaltiger Fortschritt: keine Tante Edith, kein Rohrstock (außer beim Schulvorsteher, und nur für größere Vergehen, zum Beispiel wenn man in der Schule rauchte). Keine Crystal. Und auch der Umstand, daß es in dieser rein männlichen Umgebung keinen Platz für Ulrike gab, machte ihm nicht sehr viel aus. Er hatte seine Kinderliebe überwunden und fuhr jetzt kaum noch ins Moor hinaus. Ein Junge hatte anderes im Kopf.
In der Zeitung las man jetzt wieder öfter von Adolf Hitler, der eine Zeitlang im Gefängnis gesessen hatte. Aber für die Welt außerhalb Deutschlands war er im Grunde doch nur eine sehr komische und ziemlich vulgäre Gestalt — ungesund, ewig heiser und ohne jeden Charme, kurz, ein abstoßender Mann. Für die Deutschen dagegen war er Messias und Siegfried in einer Person. Und in seinen eigenen Augen? Da war er der Mann, der von Berlin aus die Welt beherrschen würde, der
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