Und der Wind bringt den Regen
Oberin des Krankenhauses. Die jüngeren Schwestern konnten sie nicht ausstehen. Sie wirkte immer gehetzt. Mit ihren Eltern sprach sie in einem so ruppigen und scharfen Ton, daß beide kaum noch etwas zu sagen wagten. Nur für Nell hatte sie manchmal ein freundliches oder sogar liebevolles Wort.
So wie die Wasser im Fluß dahingleiten, bald in einer kleinen Bucht verharrend, bald in einem Strudel sich im Kreise drehend, so trieben die Dinge unaufhaltsam den Stromschnellen zu, hinter denen der Abgrund lag.
Aber noch war es nicht soweit.
Im Sommer 1925 brachte der Postbote eines Morgens Nell einen mit der Schreibmaschine adressierten Brief. So etwas kam selten vor, und es verhieß nichts Gutes. Nell betrachtete ihn von allen Seiten und riß ihn auf. «... freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, daß die Schulleitung der Realschule Ingerby Ihrem Sohn Benbow Dorman ein Stipendium... beginnend am 14. September... Die Schuluniform besteht aus... und kann bezogen werden bei... Wir hoffen, daß Ihr Sohn... zur Ehre dieser altehrwürdigen Schule...»
Es war noch früher Vormittag. Benbow war in der Schule, Opa im Laden und Oma noch im Bett. Nell saß in der sommerwarmen Küche, den Brief auf den Knien, und Tränen strömten ihr über das Gesicht. «Was für ein schöner Brief!» sagte sie immer wieder. «Was für eine wunderbare Nachricht!»
Ach, wenn sie es doch nur Tom hätte erzählen können... Aber Tom war nun schon seit zehn Jahren tot... Oder Frank, ihm hätte sie es auch gern erzählt — er hätte sie verstanden und sich mit ihr gefreut. Aber Frank war verschwunden. Nur Tante Min hatte einmal gesagt, sie hätte gehört, daß er irgendwo im Süden unterrichtete. Sonst hatte niemand je seinen Namen erwähnt.
Wenn Benbow jetzt bei mir wäre, würde ich ihn ganz fest in die Arme nehmen, dachte sie. So ein braver junge! Und sie mußte auch an all die Nachmittage in der Küche hier denken, wenn die Sonne durchs Fenster schien und ihn nach draußen lockte, oder wenn im Winter das Feuer brannte und der Tag in der Dämmerung versank: dann hatten sie und Benbow zusammen gearbeitet, geduldig und liebevoll und manchmal auch müde und gereizt, aber immer mit dem Ziel vor Augen, sich von Tante Ediths Tyrannei zu befreien -das Stipendium war dabei nur Nebensache gewesen.
Natürlich mußte sie sich bei Edith bedanken, das war klar. Aber zuerst mußte sie es jetzt gleich, auf der Stelle, jemandem erzählen, sonst würde sie platzen. Sie ging nach oben zu Oma.
«Oma, Benbow hat eine Freistelle für die Realschule bekommen.»
Oma brach in Tränen aus. «Für die Realschule! Das hätte unser Tom haben sollen!» Sie schneuzte sich lange und gründlich. «Aber der hat ja auch nicht solche Beziehungen gehabt.»
«Wieso Beziehungen?» fragte Nell erstaunt.
«Na, das ist doch klar. So was kriegt man nicht ohne Beziehungen.»
Nell mußte lachen. «Du glaubst doch nicht, daß Benbow Beziehungen hat?»
Aus dem Berg von Kissen und Federbetten und Bettjäckchen warf Oma ihr einen traurigen Blick zu. «Du glaubst doch nicht etwa, daß er das Stipendium sonst bekommen hätte?»
«Was für Beziehungen meinst du denn?» fragte Nell noch einmal.
Oma setzte ihr weises Eulengesicht auf. «Unsere Edith hat bestimmt bei Schulfragen allerhand mitzureden», sagte sie kühl.
Als nächstes ging Nell zu Opa in den Laden. Sie brachte ihm eine Tasse Tee. «Dad!» rief sie. «Stell dir vor! Benbow hat eine Freistelle für die Realschule bekommen.»
Der alte Mann goß ein wenig Tee in die Untertasse und schlürfte ihn geräuschvoll. «Das wundert mich nicht, Nell. Nein, das wundert mich gar nicht. Edith ist eine sehr gute Lehrerin.»
Wieder schlürfte er. «Wäre gut, wenn du ihr einen kleinen Brief schreiben würdest. Ein paar Dankesworte, verstehst du? Sie ist wirklich eine sehr gute Lehrerin.»
Die Ladenglocke klingelte, und Min kam herein: um fünf Jahre grauer und schmuddliger, sonst aber kaum älter geworden.
«Tag, Will. Guten Tag, Nell. Was gibt’s Neues?»
«Fred Plackett macht’s nicht mehr lange», sagte Opa.
«Ach.»
«Und Charlie Bracegirdle wird morgen beerdigt.»
«Das wird ’n Fest für die Würmer, was? Da bleibt keiner nüchtern, das sage ich dir.»
«Ja, er hat gern einen gehoben», gab Opa in christlicher Nächstenliebe zu.
«Benbow hat ein Stipendium für die Realschule bekommen», sagte Nell.
«Tatsächlich, Nell? Was ich sagen wollte: Charlies Bruder George konnte sogar noch mehr vertragen,
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