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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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Hütte, außer Reichweite der Hofhunde und Ratten, wenn auch nicht der Millionen Schmeißfliegen, die wie eine rastlose brandige Epidermis um sie herumwimmelten.
    Der Wind stöhnte. Der Turm schwankte. Ein fettiges Stück Zeitung wickelte sich um ein Ölfaß. Die Festung bog und krümmte sich. Eine Blechplatte flappte wie eine mürrische Lippe. Die Katzenfellflagge auf dem Turm ruckte um ihre Stange. Der Wind ließ nach, und mit ihm der kleine Krawall. Nur die Mauer knurrte fort, als sie ihr Gewicht verlagerte.
     
    Der König befand sich weder auf dem Hof noch in der Hütte. Noch hockte er in seinem Turm. Tatsächlich weilte der König überhaupt nicht in den Mauern von Hundskopf, denn der König war draußen, unten in der Stadt, und stellte einige Berechnungen an. Ja, ich war da unten, in Epauletten und Tressen, kauerte im Schatten und berechnete die Lage. Und dann fing Beth an, sich mit Briefen und seltsamen kleinen Geschenken, die sie auf den Sims ihres Schlafzimmerfensters legte, an mich heranzumachen. Beim ersten Mal bekam ich eine derart abgefeimte Blutung, daß ich da auf der Veranda fast aus den Latschen gekippt wäre. Sonst hatte sie immer nur still auf der Bettkante gesessen und manchmal dabei ihr Bittgebet aufgesagt – immer den gleichen Text –, weshalb es mich ganz unvorbereitet traf, während ich da so mit meinen Hosenknöpfen kämpfte. Das Licht ging an, und als ich aufsah, war sie bereits vom Bett geschlüpft und kam genau auf mich zu. Bumm bumm bumm machte mein Blut, und ich erstarrte und hielt die Luft an und betete zu Gott, daß sie nicht aufblicken möge – denn sie hatte den Kopf gesenkt, als sie barfuß über die Dielen schritt. Den Kopf noch immer geneigt, öffnete sie das Fenster eben weit genug, um ein zusammengefaltetes Stück Papier hindurchzuschieben; dann drehte sie sich um und ging ohne das leiseste Geräusch wieder zu ihrem Bett zurück. Dort blieb sie einen Moment reglos sitzen, und streckte dann einen goldenen Arm aus und drehte die Lampe herunter. Das klebrige Licht glitt von ihrer dünnen Gestalt und meiner, und sie schlüpfte in ihre Baumwolldecken.
    Ich entfaltete das Papier und las die erste Zeile – »An Gott« – und malte leise mit Nasenblut ein »G« an die Scheibe. Dann packte ich meine Schuhe, stopfte mir den Brief ins offene Hemd und rannte nach Hause.
    Dieser erste Brief war um eine Locke ihres Haars gewickelt. Die Locke war an einem Ende mit einem marineblauen Samtbändchen zusammengebunden. Die Locke duftete nach Lavendel … nach Lavendel … nach Lavendel – wie mein Engel – wie Cosey Mo.
     
    LIEBER GOTT,
    ich weiß, Du bist vor meinem Fenster. Ich weiß, Du wachst im Dunkeln über mich. Ich liebe Dich so, wie Du jedes Deiner Kinder liebst. Die weisen Damen sagen, daß ich geprüft werde und ein Teil Deines großen Planes bin. Ich frage sie, was ist das, der große Plan, und sie sagen, das dürfte ich nicht wissen. Sie sagen, seit dem Zeichen des Bluts sei ich bereit. Deinem und meinem. Dein Zeichen auf der Veranda brachte meins hervor, wie Du weißt, da Du alles weißt, und auch das gehört zu Deinem großen Plan, wie die weisen Damen sagen. Bitte mach es bald, denn ich liebe Dich.
    Dein kleines Püppchen
    Beth.
     
    In diesen Brief gewickelt war ihre lavendelduftende Locke. Die glänzte wie gesponnenes Gold. Ich hielt die Locke in meiner Hand und las den Brief, und ein erregtes Schaudern – ahnungsvoll, schmerzlich – durchlief mich. Also, meine Güte, sogar jetzt, im Licht all dessen, was passiert ist, haben diese Worte etwas schauerlich Ominöses an sich. »Der große Plan«, wie sie das nannte. Wie recht diese Damen hatten. Und »das Zeichen des Bluts« – ja, hatte sie denn etwa ebenfalls Blutungen?
    Ein paar Tage später kam wieder ein Brief.
    Diesmal zu einer Art Schriftrolle zusammengerollt und mit einem bestickten Bändchen von einem ihrer Nachthemden umwunden.
    LIEBER GOTT, MEIN VATER UND MEIN FREUND AUF EWIG,
    ich bin bereit, Gott. Ich werde mich nicht widersetzen. Was auch immer kommen mag. Aber bitte mach es bald. Jeden Tag sehen sie bei mir nach, ob es passiert ist. Sie fragen mich, ob ich brav und keusch gewesen bin. Gestern hat Mrs. Barlow gesagt, daß ich den Propheten beschämt haben müsse. Dein Zeichen habe ich als mein Geheimnis bewahrt. Das Du am Fenster hinterlassen hast. Die Sichel aus Blut.
    Aber bitte, komme bald zu mir, ich flehe Dich an,
    Beth.
    Ich male ein »G«, und sie sieht eine Sichel aus Blut!
    Ach, das Bändchen und

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