Und die Eselin sah den Engel
um zu wissen, daß das Schrecknis, das ein solch greuliches Lärmen inspirierte, ich selber war; aber als ich meine Sichel zur Flucht festrückte und losrannte, warf ich trotzdem einen Blick über die Schulter.
Über die Veranda von Beths Nachbarhaus polterte ein zwei Meter großes Mastodon in babyblauem Morgenrock. Die Frau stürmte die Treppe runter auf mich zu, keifte unsinniges Zeug und schwang ein Nudelholz wie eine Streitaxt.
»Das ist er! Das ist er!« brüllte sie. »Da! Er hat das Kind! Er hat das Kind!«
»Nein, hab ich nicht! Nein, hab ich nicht!« schrie ich stumm.
»Haste noch nicht genug? Willste noch mehr? Soll ich dir diesmal den gottverdammten Schädel einschlagen? Ich hab keine Angst vor dir! Sardus! Sardus! Wo steckst du denn, zum Henker?« kreischte sie. Ich sah mich wieder um, und die Frau hatte die Verfolgung aufgegeben und betupfte Beths Gesicht mit einem Zipfel ihres Morgenmantels. Beth wehrte sich verzweifelt.
»Was hat er getan, Kind? Was hat der böse Mann dir getan? Antworte, Kind! Hat er dich angefaßt? Antworte mir! Wo hat er dich angefaßt?«
Ich rannte und rannte und hörte erst auf, als ich das Ortsschild am Südrand der Stadt hinter mir hatte. Niemand folgte mir, aber ich hatte das Gefühl, die Sache sei noch nicht überstanden.
Schließlich kam ich zu einer Brücke. Hallis Crossing. Vor vielen Jahren war ich dort zum letztenmal gewesen. Beide Ufer waren mit einem dichtgestrickten Dornengestrüpp von Wildrosen überwuchert. Ich zog meine Sichel und machte mich an die Arbeit.
Hier bin ich, in all meinem Schmerz, in all meinem Leid, und gehe unter, aus dem Leben, hinab in den Tod. Und soviel sag ich euch – diese Sterberei tut weh. Und wie, sie schmerzt – und doch – und doch – trotz aller Qualen an Leib und Seele, trotz allem anderen, ja, trotz allem muß ich lächeln, ja, das muß ich, ja, manchmal kann ich angesichts all dessen nur noch lächeln.
Ich meine, all dieser Zorn, all diese Verdammung, womit wir überhäuft werden, all diese Entfaltungen abgefeimter Bosheit und lüsterner Grausamkeit und heftigen Mißvergnügens, all das, was Gott in seiner scheinbar unsinnigen, unklugen, empörenden Richtertätigkeit unserem traurigen albernen Planeten auflädt – nun, all das ist nur Fassade. Tief in seinem Innern hat Gott ein Herz, so groß wie eine Scheune. Ich weiß es. Ich hab mit ihm gesprochen.
Andererseits – welcher Sinn genau nun hinter unserem irdischen Leiden steckt, ist mir ebenso ein Rätsel, wie es für euch bestimmt auch eins ist. Ich meine, auf welchem Weg kommt Gott etwa zu dem Entschluß, alles Wasser von Ort A abzuziehen und über Ort B abzuwerfen? Was denkt er sich dabei? Ich frage euch. Wenn uns derlei nicht entsprechend dem Eifer, mit dem wir unseren göttlichen Aufgaben nachgehen, zugemessen wird, und davon können wir sicher ausgehen, ja was dann? frag ich mich. Was geht da oben vor? Wonach wird das Elend bemessen? Was läßt die Waagschale sinken? Ist es ein Zufallssystem? Eine Rouletteschüssel? Ein Würfelspiel? Oder gibt es da ein bestimmtes Muster? Etwas, das vor der Schöpfung erfunden wurde; hat es was mit den Jahreszeiten zu tun, mit Astrologie? Wieso wurde bei der ersten überlieferten Massenausrottung die Sintflutmethode angewandt? Wollte Gott ein Bad nehmen? Ich frage euch. Oder gab es erst das System, und dann die Schöpfung? Ist das System mathematisch? Numerisch? Oder vielleicht alphabetisch? »Heute sind wir bei ›P‹ – Pest allenthalben, ein paar Pogrome, etliche Plagen, dann ein bißchen Putzen und eine Praline hinterher …« Bald werd ich’s wissen – wenn der Tod mich endlich bezwungen hat – wenn ich außer Reichweite des Lebens bin – wenn ich keine Chance mehr habe, zurückzukehren – ja, dann wird mir das alles offenbart werden.
Nacht senkte sich über Hallis Crossing, und ich hockte unter den verbolzten Balken der Brücke und lauschte den Bewegungen des Holzes, den Bewegungen des Wassers, während es rings um mich her ernst wurde. Der Mond war eine Stahlzinke, gestochen in einen Himmel, der so schwarz und unversucht war wie die Kammern eines erstorbenen Nonnenherzens. Der Mond versuchte mich zu hetzen, und er hatte sich die richtige Nacht dafür ausgewählt. Seine Haltung drückte unbestreitbar eine bevorstehende Katastrophe aus – so sorglos hing er in seiner unsichtbaren Schlinge, überirdisch und in meinen Augen kopflastig, diese Mondsichel, kopflastig und vornüberkippend, als könnte die leiseste
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