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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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Störung ihn aus seinem himmlischen Nest stürzen und auf mich niederkrachen lassen. Der Stausee an Mut, den anzuzapfen ich an diesem Tag so oft Ursache gehabt hatte, war so gut wie ausgetrocknet – die letzten tapferen Tropfen hatte ich verbraucht, um mich durch das reißende Dornendickicht zu schlagen.
    Ich hatte meinen Gürtel über einen Brückenbalken geschlungen und mich hinuntergelassen, wobei mir schon in dem Augenblick, da ich merkte, daß ich nicht mehr zurückkonnte, bewußt war, daß ich die Sache falsch angepackt hatte. Es war zu dunkel, und das Gestrüpp schien tiefer als ich gedacht hatte. Dichter. Dorniger. Mein Gürtel war weder lang genug. Noch stark genug. Oder war ich einfach zu schwer, mit all meinen Bürden, meinen drückenden Problemen, meiner gewaltigen Last an Leid? Jedenfalls stürzte ich in die Wildrosen und rettete mich irgendwie aus dem reißenden Dornengestrüpp ans Ufer des Kloakenbachs. Körper, Gesicht, Hände und Hals waren freilich über und über mit winzigen perlenden Striemen und Kratzern übersät. Ich kroch unter die Brücke, zog mir Jacke und Hose aus und zupfte eine Zeitlang schweigend an den bösen Dornen herum, die sich in die Kleider und in mein Fleisch eingebohrt hatten.
    »Wenn es für jeden Tod, den ich heute erlitten habe, einen Dorn gäbe«, dachte ich, »und einen Dorn für jeden Mord, den sie an mir verübt haben, dann wäre die Welt ein einziger großer Dornbusch.« Und ich stieß einen so tiefen Seufzer aus, so voller Verzweiflung, so voller Gram, ja, von so verdammt erbärmlicher Trauer, daß ich mir selbst sagen mußte: »Immer mit der Ruhe, Euchrid, nur mit der Ruhe. Bleib tapfer. Du bist jetzt in Sicherheit. Hier kommt keiner an dich ran. Hier kann keiner dir wehtun. Kopf hoch. Am Ende wird alles gut ausgehen.«
    Und ich nehme an, da gingen die Schleusentore zu einem anderen Stausee auf, und erschöpft und unter vielen schluchzenden Seufzern weinte ich sehr lange, bis ich am Ufer dieses stinkenden kleinen Baches einschlief.
    Und kurz bevor ich in die Traumzeit fiel, hab ich gedacht, daß mir noch einige sehr schlimme Augenblicke bevorstanden. Auch ein paar gute, mag sein, aber vor allem erinnere ich mich, gedacht zu haben, daß ein paar sehr schlimme Augenblicke auf mich zukamen, schnell und immer näher, schlimme Augenblicke, die durchlebt zu werden verlangten.
    Mir träumte, ich war ein Zimmermann. Der beste Zimmermann in der Stadt. Eines Tages machte ich ein großes Kreuz und trug es ganz allein einen Hügel hoch. Die Sonne schien heiß, und ein warmer Wind wehte mir Zetergeschrei der Bürger in die Ohren. Ich drehte mich um und sah eine Menge Leute, jung und alt, mir nachklettern. Ich hob das große Kreuz auf meinen Rücken und lief den Hügel hinan.
    Dort traf ich eine Hure, die ein Loch in den Boden grub, und als ich sie fragte, was sie da ausgraben wolle, sagte sie: Nichts; ich begrabe die Sünden der Welt. Ich blickte in das Loch und sah nur einen blutgestreiften Handschuh, und ich griff hinein und nahm ihn, und sie sagte: Leg dich hin. Ich legte mich auf mein großes Kreuz, und sie entkleidete mich. Sie zog Dornen aus meinem Fleisch. Sie salbte meinen Körper mit Lavendel, sagte, sie müsse mich vorbereiten, und verhüllte meine Lenden mit ihrem rosa Nachtgewand. Die Menge rückte immer näher. Sie nagelte mich an. Dann rammte sie mein Kreuz in das Loch, und ich hing dort, versunken in meinen winzigen Schmerz.
    Als ich die Augen aufschlug, war ich umdrängt von der Menge. Jeder einzelne trug ein langes Gewand, eine Dornenkrone und fünf Wunden. Zu viele Christusse und nicht genug Kreuze, dachte ich entsetzt.
    Sie zerrten mich runter, alle kämpften sie darum, ans Kreuz zu kommen. Es stöhnte unter ihrem Gewicht, und ich wurde zornig.
    Das ist mein Kreuz, schrie ich, und die Leute liefen weg. Ich nahm eine gewaltige Säge, kniete mich vor das Kreuz und begann zu sägen. Ein paar Schritte rechts von mir sah ich noch ein Kreuz, das gleiche, und begann es abzusägen. Dann noch eins. Und noch eins. Bis ich vier Hauptträger durchgesägt hatte.
    »Aber warum, Euchrid? Ich bin doch dein Vater. Warum?« sagte eine Stimme.
    Ich blickte auf und sah Pa oben in seinem Wasserturm sitzen.
    »Warum?« fragte er wieder. Und ich hielt noch die verdammte Säge in der Hand.
    Und der Turm stürzte um, und Pa krachte auf den Boden.
    Unter unheimlichen Krämpfen würgte Pa den Geist aus – einen geringelten Haufen Ektoplasma, aus dem sich ein gespenstisches Wesen erhob.

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