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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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untergegangene Gewicht proportional zu dem bereits untergegangenen abnimmt, dann ist, wie ich hoffe, nichts an meiner Kalkulation auszusetzen. Aber man kann solche Faktoren wie die eben genannten nicht einfach ignorieren und dann noch erwarten, zu einem halbwegs korrekten Ergebnis zu kommen. Da also diese Streitpunkte, oder zumindest die Antworten auf diese strittigen Fragen, jenseits der Grenzen meines Urteilsvermögens liegen, sind meine Berechnungen bestenfalls als Hypothesen und schlimmstenfalls als völlige Trugschlüsse zu betrachten. Im Lichte dieser Tatsache finde ich daher den Satz: »Nur ein Wahnsinniger versucht, das Grabgeläut seines Sterbens zu berechnen«, nicht unbedingt falsch, vornehmlich deshalb, weil ich selbst nicht so recht weiß, was dieser Satz eigentlich sagen will.
    Es reicht wohl, wenn ich sage, und zwar – nach langem und gründlichem Grübeln und ohne voreilige Schlüsse gezogen zu haben – durchaus nicht unglücklich sage, daß ich, Euchrid Eucrow, so viel Chancen hab wie ein Schneeball in der Hölle, morgen die Sonne aufgehen zu sehen.
X
    Einmal hab ich die Hobos belauscht, wie sie drüben am Nordpaß um ein Feuer hockten. Es waren ihrer sieben. Sie hatten eine geschützte Stelle in der Nähe meines Hauses verlassen und waren, in respektvollem Abstand von der unheimlichen Insel der Vegetation durch den Morast watend, um das Sumpfland herumgegangen, bis sie den Paß erreichten, wo es trocken war. Ma hatte ihnen ein paar Flaschen Stew verkaufen können, und nun saßen sie in ihren schmutzigen, bis auf den Boden hängenden grünen Mänteln schweigend da und tranken. Sie trugen klobige Stiefel und lächerliche Filzhüte.
    Da lag ich also in einem Loch, etwa dreißig Meter von ihnen entfernt, als ein kleiner gefleckter Köter angetrabt kam und sich am Rand meines Grabens niederließ; er kläffte und winselte und schob mir bettelnd eine Pfote hin. Unter einem Saum verfilzten Fells hing ein blindes Auge, versiegelt von perlmuttenem Star.
    Zuerst hörte ich einen Pfiff, dann hörte ich einen der Penner rufen: »Bastard! Bastard! Bastard! Komm her!« Dann schrien die anderen Penner auch und schwenkten ihre Mäntel: »Bastard! Bastard!« Nehme an, das war der Name dieser Töle. Die Hobos begannen auf mein Versteck zuzutorkeln. Ich sah den Hund an und wußte, ich würde, wenn sie mich erwischten, eine Menge Prügel einstecken müssen; denn die Hobos waren eine miese Bande, und ich hatte oft genug gesehen, wie sie untereinander scheinbar ohne jeden Grund handgreiflich wurden. Ohne meinen Mund zu bewegen, sagte ich zu dem Köter, zu seinem einen toten Auge: »Geh zu ihm! Lauf! Bevor er zu nah herankommt!« Worauf der Hund herumwirbelte und dem herannahenden Haufen entgegenstürzte. Der Anführer hatte seinen Mantel ausgezogen und den Hund mit einer einzigen Bewegung darin eingesackt. Glücklich, daß man ihn gefunden hatte, kläffte Bastard in seinen Armen. Ich lag im Graben und beobachtete, wie der Berg von Mänteln sich ums Feuer kauerte und hektisch in Bewegung geriet.
    Als Bastard dann rotierte, setzten sich die Hobos wieder auf ihre alten Plätze und sogen schweigend und heißhungrig sein Aroma ein.
    So hab ich erfahren, daß ich mit Hunden sprechen kann.
XI
    Den Ukuliten war das Sumpfland ein wahrer Greuel.
    Sie glaubten, sollte ihr Gott einmal unzufrieden mit ihnen sein, werde es zur Strafe hervorbrechen und das Tal überschwemmen.
    Mit einem Eifer, den tiefste Überzeugung antrieb, hämmerten in der Schule die Ukuliten-Ältesten den Kindern ein, der Sumpf sei ein teuflischer Schmutzfleck auf dem Reiche Zion, und in seinem Innern trieben sich sämtliche Höllenübel dieser Welt herum. Die Kinder wurden so verängstigt, daß sie sich selten über den nördlichen Stadtrand hinauswagten.
    Die Raffinerie- und Feldarbeiter waren nicht so abergläubisch, aber auch sie sprachen nur mit einer gewissen Zurückhaltung davon.
    Nur einmal hatte Euchrid diese tapferen und streitlustigen Männer dort hineingehen sehen. Die Tatsache, daß am Sumpfende des Tals riesige bewohnbare Gebiete leerstanden und das Gebiet am anderen, dem südlichen Ende buchstäblich vor Bewohnern überfloß, legte nahe, daß die Arbeiter und ihre Familien mit mehr als nur ein wenig Besorgnis zu dieser Gegend hinsahen.
    Die Hobos, die aus der Stadt und den Wohngebieten vertrieben und so gezwungen wurden, sich in der näheren Umgebung des Sumpfes herumzutreiben, erzählten einander schaurige Geschichten von Nächten, die sie

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