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Und die Eselin sah den Engel

Und die Eselin sah den Engel

Titel: Und die Eselin sah den Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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verirrt in seinem finsteren Schattenreich verbracht hatten, und wenn sie gierig aus ihren Schnapsflaschen tranken und in das nächtlich wärmende Feuer spuckten, starrten sie durch die teuflischen Flammen in das mächtige Schwarz des Sumpflandes und nahmen schaudernd einen noch längeren, noch tieferen Zug.
    Euchrid war knapp zehn Jahre alt, als er sich zum erstenmal dort hingezogen fühlte.
     
    Ich kann ehrlich nicht genau angeben, wie alt ich war, als ich zum erstenmal in das Sumpfland ging. Mehr noch, ich kann nicht auf irgendeinen bestimmten Tag zeigen und sagen – dies war der Tag, an dem ich mich zum erstenmal in das Sumpfland wagte. Nein, das kann ich nicht.
    Denn es kommt mir so vor, als hätte es mich schon immer an diesen düstren nebligen Ort gezogen, dem gemeine Seelen sich nicht zu nähern wagten – wo der Nebel aus dem Kompost des Bodens steigt und wie ein künstlicher Himmel in der aus Ranken und Zweigen gewebten Decke hängt – wo die dünnen hohen Bäume sich in Ehrfurcht vor mir verneigen – wo Millionen plumper Schatten kreisen und kollidieren, kreisen und kollidieren, groß und klein – alle umeinander in heimlichen verschwommenen Bewegungen, die sich durch den Dampf ihres Atems verraten. Damals schien es mir – kaum zehn Jahre war ich alt –, als hätte ich bereits mein ganzes Leben an diesem Ort verbracht, als wäre ich schon immer auf durchweichtem unsicherem Boden gegangen, als hätte ich schon immer diese schwere Luft geatmet und meine bloße Hand in die wimmelnden Herzen von tausend vermoderten Baumstümpfen gesteckt – als hätte ich schon immer ein schwarzes Gewirk statt eines Schleiers getragen. Mein Verlangen, die Marschebene zu überqueren, die den Kreis des Sumpflandes von meiner Hütte trennte, schien daher nur natürlich. Nicht daß ich reingesprungen bin! O nein! Nicht reingesprungen!
    Die ersten Male hab ich mich wohl nur ein paar Meter weit in den feuchten Morast des Sumpflandes hineingewagt. Die schwer duftende Luft machte mich müde und konfus, und es grauste mir ein wenig, wenn meine nervösen Schritte auf dem seltsam geschichteten Untergrund aus matschigem Laub und weichem nassem Holz ins Schwanken gerieten.
    Dürre Spinnweben hingen wie klebrige Leichentücher auf meiner Haut.
    Faustgroße Sumpfkröten blähten sich und quakten dumpf durch die Düsternis. Die Luft lag auf mir wie eine unerwünschte Haut. Mir schwindelte der Kopf, und meine Stiefel liefen voll.
    Doch immer wieder kehrte ich an diesen verbotenen Ort zurück, und mit jedem Mal drang ich ein wenig tiefer in sein warmes nasses Herz vor.
    Und als der Sumpf so Tag für Tag mein Trost und mein Allerheiligstes wurde, kam auch der Engel in meine Welt herabgeschwebt.
    Am Anfang war nur ein geflüstertes Wort. Dann ein Flattern über mir. Ein paar Tage später wurde mein Name ausgesprochen; fremd klang er mir – unkenntlich –, denn niemand hatte mich je bei meinem Namen gerufen. Als nächstes schoß, kaum den Nebel aufrührend, eine flatternde Gestalt zwischen den Bäumen hin.
    Dann die Schwingen und die silbern herabschwebende Feder – nach und nach – Stück für Stück –, bis ich am Ende in einer winzigen Lichtung auf einem schleimigen Baumstamm saß – ausgelaugt von der betäubenden Luft, den Kopf in die Hände gestützt und meine Augen müde und wund – und auf einmal ein leichtes Wehen bemerkte, als schlüge etwas sachte die Luft; und ich hob den Kopf, glaub ich, und der Wind, den sie machte, war kühl und von himmlischer Farbe.
    Aus dem sanften bedrohlichen Wallen dieses Schattenreichs ist mein Engel gekommen, nur für einen Augenblick – einen zu kurzen Augenblick –, und hat mir das Herz gestohlen.
    In kobaltnes Licht getaucht, schwebte sie vor mir. Ihre Schwingen schlugen durch meine Lungen, wedelten Nester und spröde Schalen und Spinnweben und schimmernde Flügel und kleine Skelette und Schädel und Häute empor. Und bei dieser Erscheinung richtete sie ein freundliches Wort an mich. Das tat sie.
    »Ich liebe dich, Euchrid«, sagte sie. »Hab keine Furcht, denn als deine Hüterin bin ich dir gesandt.«
    Und ich lehnte mich an den schleimigen Stamm in der winzigen Lichtung zurück und stützte wieder den Kopf in die Hände. Müde war ich, voller Schmerz und benommen. Als ich dann aufblickte, war es auf der Lichtung wieder wie zuvor – dunkel und neblig –, und etwas, das aussah wie ein von oben kreiselnd herabfallendes Messer, senkte sich mir ins Herz. Eine silberne Feder bohrte sich

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