Und die Eselin sah den Engel
Widersacherinnen im Schutz des Balkons blieben und der fliehenden Gestalt ihre Schirme nachschüttelten.
Den Kopf gesenkt und gekrümmten Ganges schleppte sich Euchrid durch den peitschenden Regen; mit gleichgültig schwankenden Schritten rutschte und stolperte und schlurfte er die tückische Straße entlang.
Den Boden nach Pfützen und Schlaglöchern absuchend, wurde ihm plötzlich bewußt, daß da der matte aber merkliche Fleck seines Schattens um seine Füße dümpelte, und ihn überkam das seltsame Gefühl, etwas gefunden zu haben, das er für immer verloren geglaubt hatte. Und während er hüpfend und hastend heimwärts rannte, sah er mit zunehmender Verzückung seinen so lange vermißten Gefährten sich an seine Fersen heften, und als er die Stadtgrenze passiert hatte, verlangsamte er seinen Schritt – längst vergessen war im Licht des erneuerten Bundes der Grund für seine wilde Flucht – und blieb dann, den Blick auf den Boden geleimt, endgültig stehen, wobei er fast erwartete, sein Schatten werde einfach weitergehen oder just, wie er gekommen war, wieder verschwinden. Doch der tat nichts von alledem, und er sah voller Staunen zu, wie der dunkle Fleck um seine Füße immer schwärzer und schwärzer wurde.
Von tausend widerstreitenden Gefühlen überwältigt, zernagte Euchrid seine Unterlippe und würgte ein Schluchzen hinunter. So sehr nahmen ihn Herzensdinge in Anspruch, daß er, als er Blut schmeckte, dessen Quelle erst inne ward, als er einen Tropfen davon in die stille Oberfläche einer schlammigen Regenpfütze fallen sah.
»Hey, Schatten, ich hab Nasenbluten«, dachte Euchrid, kniff sich die Nase zu und legte den Kopf zurück. Er schloß die Augen und fühlte ein warmes Glühen auf seinem Gesicht. Er machte sie wieder auf und sah in ein grelles, schier blendendes Licht, und blinzelnd erkannte er, daß der Himmel über ihm von unendlichem Blau war, wolkenlos und warm. Oben kreiste, hervorgebrochen mit geballter Pracht, die Sonne und ließ den blauen Himmel mit ihrem Strahlen vor Freude erzittern.
Das Gesicht der Sonne zugewandt, spürte Euchrid die Wärme, hörte das Schweigen, atmete die neue Luft, fühlte seinen wiedergefundenen Schatten um seine Füße kriechen.
»Na sowas. Der Regen hat aufgehört. Die Sonne scheint, der Regen hat aufgehört. Was sagst du dazu?« fragte Euchrid seinen Schatten.
Dann hörte er die Jubelschreie aus der Stadt, aber er rannte schon. Nur weg. Weg.
XXI
Und so kam das Kind und hörte der Regen auf, und die unendliche schwarze Wolke teilte sich am Firmament wie ein bleierner Vorhang, und alle Menschen im Tal erblickten das herrliche Blau und sahen am Himmel die große Sonne. Und sie hoben die Neugeborene gen Himmel, damit sie als erste den warmen Atem der Versöhnung empfände und damit ihr Gott sähe, daß das auf den Stufen des Denkmals abgelegte fleischgewordene Zeichen nicht unbemerkt geblieben sei und daß das zwiefache Wunder wahrhaftig, eins wie das andere, voll und ganz verstanden werde und nie dem Vergessen anheimfallen solle. Und weinend und wehklagend fielen sie auf die Knie und priesen in einem fort Gott und das Kindlein – und von Hand zu Hand ward es gereicht, jenes zarte, so freudig strahlende Bündel in seinem Wickeltuch, dieses Wunder, dieser Lohn des Glaubens – hoch dem Himmel zu ward es gehoben.
ZWEITES BUCH
Beth
– Sechs Jahre später –
I
Sechs Jahre vergingen. Sechs junge Revolverhelden vom Pech verfolgt. Sechs Kiefernsärge für ihren Transport. Sechs gewundene Meilen zurückgelegt. Sechs lautlos schwingende Totenglocken. Sechs weinende Witwen. Sechs Stückchen kalter Erde. Sechs Amseln, die sechs krumme Schatten warfen. Sechs sinkende Monde. Sechs Wunden. Sechs Kerben. Sechs schmutzige zerbrochene Krücken.
So liefen die Jahre meines Frühlings dahin.
Sechs Weidenkörbe.
In diese rollten die Köpfe meiner Jugendjahre.
II
Jäh senkte sich die Nacht auf das kleine Tal, und der furchtbare Reißzahn des Mondes drohte dem Firmament – eine güldene Sichel, die in die nächtlich stillen Weiden des Himmels geworfen war. Und aus dem Dickicht der Zedern, die sich an die west- und östlichen Talseiten klammerten, brach das tickende Knirschen von Millionen Zikaden in schrillem Einklang über die feuchte Nacht herein. Mit gleicher Präzision verstummten sie wieder, und schwer hing die gehetzte Stille, ein unheimlicher und ganz anderer Lärm. Im Mondschein sah man die üppigen Felder schwellen und wogen, bewegt von einem trägen Zephyr,
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